Wer wird Millionär?

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: hjr

"Die Zeit wird kommen, wenn unser Schweigen mächtiger sein wird, als die Stimmen, die ihr heute erdrosselt", hatte August Spies, der deutsch-US-amerikanische Journalist und Arbeiterführer ausgerufen, als am 1. Mai 1886 in Chicago (USA) eine halbe Million Arbeiter mit einem Streik begonnen hatten für eine Verkürzung der Arbeitszeit und für höhere Löhne, von denen man leben kann. Die Miliz hatte auf die streikenden Arbeiter geschossen, viele Menschen wurden dabei ermordet. Der aus Kassel stammende und in die USA ausgewanderte August Spiess wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und im November 1887 zusammen mit drei anderen Arbeiterführern hingerichtet. Der 1. Mai wurde daraufhin 1890 weltweit zum Internationalen Tag der Arbeiterbewegung.

Wer nun glaubt, das sei ein längst vergangenes Kapitel aus dem Geschichtsbuch und schon lange her, das könne heutzutage nicht mehr passieren und schon garnicht in Deutschland, der irrt sich und versucht sich in eine heile Welt zu träumen. Am 30. Mai 1968 hatte in der Bundesrepublik Deutschland die erste große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD die Notstandsgesetze beschlossen, die bis heute noch gelten. Danach sind politische Streiks in Deutschland verboten, und die Bundesregierung ist ermächtigt, notfalls sogar die Bundeswehr beispielsweise im Falle eines Generalstreiks einzusetzen und auf streikende Arbeiter schießen zu lassen. Diese deutschen Notstandsgesetze stehen übrigens nicht im Einklang mit der europäischen Rechtsordnung.

Wer Deutschland für einen unbezweifelbar zivilen, demokratischen Rechtsstaat hält, dem würde es nicht schaden, einmal gründlich darüber nachzudenken, wozu wohl ein solches Notstandsgesetz hierzulande nötig sein soll. Wer die rasant steigende Armut in Deutschland ins Verhältnis setzt zu dem ungebremst wachsenden Reichtum einer kleinen Oberschicht, der kann in die Gefahr geraten zu verstehen, welche Notstandsvisionen wohl dahinterstecken und wer sich davor fürchtet, dass Arbeiter in Deutschland für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und Menschenwürde streiken könnten.

Super-Profite, Rekord-Dividenden, Top-Boni, Dax-Allzeithoch. Die Welt des Geldes prahlt und protzt mit Profitrekorden. Aktionäre sacken in diesen Wochen Dividenden ein wie nie zuvor in der Geschichte. Die Konzerne haben im vergangenen Jahr Supergewinne eingefahren. Die Top-Bosse gönnen sich Top-Boni. Der Deutsche Aktienindex klettert von Gipfel zu Gipfel und macht die Aktionäre noch reicher als sie schon sind. Und zugleich sind unter den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und Herrschaftsbedingungen die Löhne abgekoppelt von all dem wirtschaftlichen Wachstum. Der Staat ist unter diesen Bedingungen zum Vollstreckungsinstrument der Profitraten des privaten Kapitals einer kleinen privilegierten gesellschaftlichen Oberschicht umfunktioniert worden.

Wir behinderten Menschen in Deutschland wissen, was soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde bedeutet, weil wir täglich das verlogene Panoptikum eines angeblichen Sozialstaates vorgeführt bekommen, in dem uns rund um die Uhr all das vorenthalten wird, was sozialstaatliche und menschenwürdige Lebensbedingungen sein müssten. Politisch lassen wir uns lahmlegen und halten im Großen und Ganzen still. Schließlich erzählt man uns ja tagein tagaus, wir seien ohnehin schon teuer genug für die Gesellschaft. Das funktioniert, solange wir im Hinterkopf haben, dass wir minderwertig sind.

Genauso ergeht es all den vielen Menschen, die mit uns und für uns in der Pflege und Assistenz arbeiten. Dabei wissen viele noch nicht, dass in Frankfurt mehr als 600 Beschäftigte als Inklusionshelfer, Pflegekräfte und Persönliche Assistenten beim Club Behinderter und ihrer Freunde (CeBeeF Frankfurt) die Bezahlung von Tariflöhnen durchgesetzt haben. Als Gewerkschaftsmitglieder haben sie mit der Gewerkschaft ver.di einen Anwendungstarifvertrag nach der Maßgabe des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) durchgesetzt. Obwohl die Stadtverordneten in Frankfurt im März 2012 beschlossen hatten, dass alle Arbeiten im Auftrag der Stadt tariflich bezahlt werden müssen, hatte sich das Frankfurter Sozialamt zunächst geweigert, die Tariflöhne zu refinanzieren. Doch die Kolleginnen und Kollegen waren hartnäckig. Das Tarifrecht ist ein Grundrecht. Zusammen mit ver.di haben sie die Tariflöhne erkämpfen können.

Andere haben daraus gelernt. So haben in Frankfurt nun auch Kollegen in der selbstorganisierten Pflege im Arbeitgebermodell den gleichen Anwendungstarifvertrag als Mitglieder von ver.di zusammen mit ihrer Gewerkschaft und mit mir als Assistenznehmer und Arbeitgeber verhandelt und abgeschlossen. Auch hier verweigert die Stadt Frankfurt die Refinanzierung, obwohl sie diese Arbeit als Pflichtleistung der Kommune nach dem SGB XII bezahlen muss und sich demnach an den Stadtverordnetenbeschluss der tariflichen Bezahlung zu richten hätte.

"10,25 Euro bekommt jeder seiner Assistenten in der Stunde, Nacht- und Sonntagszuschläge gibt es nicht. In den vergangenen 25 Jahren habe es eine einzige Erhöhung gegeben, 'um 17 Cent in der Stunde'. Einige seiner Angestellten hätten wegen dieser schleichenden Reallohnsenkung Zweit- und Drittjobs, um sich das Leben in Frankfurt leisten zu können. Ginge es nach Reutershahn, hätte sich das schon lange geändert, doch er hat das nicht zu entscheiden. Im Prinzip bestimmt das Sozialamt den Lohn, den Firmenchef Reutershahn zahlen kann. Denn die Stadt refinanziert seine Rund-um-die-Uhr-Assistenz", berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 15.04.2015.

Das Sozialamt schlägt die Hände über dem Kopf zusammen wegen der Mehrkosten im Vergleich zu den prekären Dumpinglöhnen, durch die die Pflegeassistenten in die Altersarmut getrieben werden. Wirrköpfig und starrsinnig funktioniert dabei die Vergleichswillkür beim Sozialamt in Frankfurt. Denn bei einem ehrlichen Vergleich müssten die Kosten der Refinanzierung von Tariflöhnen im Arbeitgebermodell den vergleichbaren Kosten der tariflich bezahlten Arbeit bei ambulanten Diensten gegenübergestellt werden. Das Arbeitgebermodell wäre in Frankfurt bei der Rund-um-die-Uhr-Pflege mit Tariflöhnen immer noch um über 80.000 Euro billiger. Was übrig bleibt bei der Rechnung Sozialamt minus Rationalität, ist immer das gleiche: amtliche Unterwerfungsphantasie.

Die Kollegen, die im Arbeitgebermodell beschäftigt sind, sollen offenbar nicht das gleiche verdienen wie bei ambulanten Diensten. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit soll in Frankfurt nicht gelten. Das Grundrecht der Tarifautonomie der Gewerkschaften ist selbst den Leuten im Sozialamt kein Begriff, die selbstverständlich tariflich nach dem TVöD bezahlt werden. "Assistenten müssten den gleichen Lohn erhalten, egal, ob sie für einen Dienstleister oder direkt für einen Pflegebedürftigen arbeiteten, sagt Sandra Auth vom Netzwerk der Sozialen Arbeit, das sich seit Jahren für Tariflöhne einsetzt", so die FAZ. Meine inzwischen eingereichte Klage beim Sozialgericht Frankfurt soll hierüber rechtliche Klarheit schaffen.

"Die Arbeit der Zukunft gestalten wir", so die Losung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum 125. Jahrestag des 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung. "Wer wenn nicht wir sind dazu berufen, die Arbeit der Zukunft zu gestalten. Wir haben in unserer langen Geschichte darin Erfahrung", sagt Harald Fiedler, Vorsitzender des DGB-Stadtverbands Frankfurt, dazu.

Wir alle, die wir keine Millionäre sind und werden, wir gehören dazu. Auch ohne Millionäre zu sein oder zu werden sind wir Millionen.