Politischer werden!

Veröffentlicht am von Roland Frickenhaus, Dresden

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Bild: Roland Frickenhaus

Seit gut sechs Wochen leben wir jetzt schon mit dem umstrittenen Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seine Wirkung in mehreren Stufen entfalten wird und in seinen Konsequenzen heute noch nicht abschließend zu erfassen ist.

Da kommt also etwas homöopathisch dosiert daher und soll, der besseren Verträglichkeit wegen, zwischendurch wissenschaftlich evaluiert werden. Als sei Politik wissenschaftsaffin und jederzeit gern bereit, sich durch studierte Schlaumeier korrigieren zu lassen. Die Notwendigkeit zur Reform der Eingliederungshilfe ist jedoch nicht wissenschaftlich sondern ökonomisch begründet. Zur Geschmacksneutralisierung ist dann noch ein wenig UN-BRK-Lyrik dazugekommen. Das ist alles.

Wer weder auf Betroffene, auf Experten noch auf das Deutsche Institut für Menschenrechte wirklich hört, der wird sich hinterher wohl kaum von Wissenschaftlern umstimmen lassen, die er selber beauftragt hat. Der aufgeweckte Zeitgenosse hat schon zu oft beobachten dürfen, was (politische) Macht mit Menschen macht und jeder von uns kennt den ein oder anderen Bettvorleger aus der Zeit, als der noch ein Tiger war. 

Die Politik, so hat es der letzte Herbst gezeigt, reagiert, wenn man sich öffentlich einmischt, wenn man den direkten Kontakt und das Gespräch mit ihr sucht, wenn man öffentlichkeitswirksame Bilder produziert, wenn man Petitionen auf den Weg bringt, wenn man sich das Maul nicht verbieten lässt und zu Streitgesprächen herausfordert. Eine wissenschaftliche Studie über die Bedeutung Sozialer Teilhabe kannst Du ruhig zu Hause liegen lassen, damit kriegst Du das politische Berlin nicht wachgerüttelt!

Auch der Appell an ethische Werte und Normen oder das stoische Wiederholen von Slogans und Parolen („Nichts über uns ohne uns!“, „Inklusion beginnt im Kopf!“) kann man sich schenken. Politik versteht nur eine Sprache, und das ist die der Politik. Woraus die besteht? Aus Eitelkeit, Macht, Mehrheiten, Koalitionen, Allianzen und Kompromissen.

Zur Erinnerung sei an das Abstimmungsverhalten der Grünen erinnert, die ganz offensichtlich sowohl eine fachliche als auch eine politische Meinung zum BTHG hatten und die sich dann für ihre politische entschieden. Ein L(e)e(h)rstück in jeder Hinsicht! Und wenn wir am 24. September in der Wahlkabine stehen, dürfen wir uns ruhig daran erinnern.

Was Menschen mit Behinderungen eint, ist nicht die individuelle Beeinträchtigung, ist nicht das Behindertsein, sondern das Behindertwerden.

Selbstverständlich ist es gut und richtig, wenn sich Personen treffen, deren verbindendes Thema beispielsweise eine gleiche Beeinträchtigung ist. Da sitzt man zusammen, tauscht sich zur spezifischen Lebenssituation, die aus dem Handicap resultiert, aus und sucht für sein Anliegen Zugänge zur Öffentlichkeit.

Das machen die ertaubten Menschen, die Menschen mit Muskelschwund, die Menschen mit Psychiatrieerfahrung und alle anderen auch. Schön nach Beeinträchtigung getrennt ist jeder für sich mit den jeweils daraus resultierenden Angelegenheiten unterwegs. Das ist gut und das ist richtig, aber für die großen Themen nicht ausreichend.

Und auch jenseits von Behinderung treffen sich die Opel-Corsa-Freunde genauso wie die Bulli-Fahrer oder die BMW-Enthusiasten. Da wird gefachsimpelt, geschraubt, gewienert und geprotzt, während man sich auf der Straße argwöhnisch beäugt und seinen Nebenmann an der roten Ampel am liebsten zu einem kleinen Sprint provozieren möchte.

Wenn es aber um die Frage geht, ob denn nun in Deutschland eine Autobahnmaut auch für PKW eingeführt werden soll, dann ist es plötzlich egal, welches Auto man fährt.

Je größer eine Gruppe ist, die sich auf den kleinsten gemeinsame Nenner verständigt, desto mehr Kraft kann sie entfalten. Dieser kleinste gemeinsame Nenner im Bereich der Behindertenbewegung ist das kollektive Erleben des gesellschaftlichen Behindertwerdens.

Der geeinte Auftritt all derer, die Furcht vor dem BTHG und einer weiteren Zunahme des Behindertwerdens hatten, erklärt, warum dann das BTHG am Ende nicht ganz so schlimm wurde, wie es eigentlich sein sollte. Die einzelnen Menschen mit Behinderung müssen sich als Bewegung zusammenfinden und gemeinsam politisch aktiv werden, sonst wird nichts!! Das Behindertwerden gehört in den Mittelpunkt.

Wie wäre es mit einer „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Politik“, einem Netzwerk oder einem Aktionsbündnis, in dem explizit das Thema des kollektiven Behindertwerdens dominiert? Da werden Kontaktdaten von Abgeordneten gesammelt, Sitzungskalender gesichtet, Ausschüsse und deren Mitglieder aufgelistet, Gespräche in den Wahlkreisbüros geführt und zu politischen Stammtischen eingeladen. Da werden Petitionen auf dem Weg gebracht, Aktionen koordiniert, der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung vor dem Verkümmern bewahrt und die Kontakte zu den sozial- und behindertenpolitischen Sprechern der Parteien gepflegt.

In Deutschland gibt es bedauerlicherweise keine kontinuierlich politisch aktive Behindertenbewegung. Ihre „Blütezeit“ liegt schon mehr als 30 Jahre zurück. Und die Aktion von Franz Christoph, dem „zornigen Krüppel“ (Die ZEIT), der dem damaligen Bundespräsidenten Carstens zweimal mit der Krücke schlug, fand 1981 statt.

Es braucht wieder die Besetzung des politischen Raumes, das ist die klare Botschaft der letzten Monate. Fachfragen, wie denn Teilhabe im Arbeitsleben geht und wie man sie überhaupt misst, welches Verfahren zur Hilfebedarfserfassung geeignet ist, wie man Sonderwelten abschafft oder Restlaufzeiten für Heime umsetzt, das sind Felder, die eher ablenken und die, wen wundert‘s, auch von der Politik nicht aktiv besetzt werden.

Um politisch ernstgenommen zu werden, sind Themen zu finden, die alle Menschen mit Behinderung gleichermaßen betreffen. Als Steilvorlage bietet sich die offensichtliche Beugung der Menschenrechte durch das BTHG an. Den Rechtsanspruch auf Teilhabe unter Mehrkostenvorbehalt zu stellen, geht gar nicht, oder?

Und so zu tun als sei BTHG-Teilhabe identisch mit PSG-Teilhabe, muss mobilisieren! Auf regionaler Ebene sind es die Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK, die zur politischen Auseinandersetzung einladen…

Ja, es braucht Köpfe, die sich den Hut aufsetzen und deren Zorn so groß ist, dass er Mut und Phantasie freisetzt und sie sich erkenn- und identifizierbar einmischen. Es braucht Strukturen, Vernetzungen und Netzwerke und die kluge Nutzung der Sozialen Medien. Es braucht die Verständigung auf gemeinsame Ziele. Es braucht eine Sammelstelle, die Beispiele, was das BTHG in der Praxis macht, entgegennimmt, juristisch prüft und zielgerichtet veröffentlicht.

Es braucht einen kontinuierlichen Austausch mit den politisch Verantwortlichen auf der kommunalen Ebene, genauso wie auf Bundesebene. Und es braucht eine öffentliche Herausforderung der Behindertenbeauftragten und der großen etablierten Verbände, damit deutlich wird, wo sie stehen, ob man sich auf sie verlassen kann, ob sie Beförderer oder Verhinderer einer menschenrechtskonformen Teilhabe sind oder nicht.

Weil Fachfragen nicht als Fach- sondern als politische Fragen Eingang in die Gesetzgebung finden, ist die politische Auseinandersetzung angesagt. In der deutschen Behindertenhilfe besteht schon seit Jahren kein Wissens- sondern ein Umsetzungsdefizit. Und dass das so ist, ist politisch gewollt…

Deshalb muss sie sich neu aufstellen und endlich (wieder) politischer werden, die deutsche Behindertenbewegung!!

 

Lesermeinungen zu “Politischer werden!” (7)

Von heiko1960

Eine eigene Partei zu gründen, ist vom Ansatz her, in Ordnung. Was dagegen spricht, die Partei müsste am Anfang viel Laufarbeit leisten, für Unterstützerunterschriften, um dann überhaupt zu einer Wahl zugelassen zu werden. Die Sozialpolitik ist ein riesiges Feld, man müsste dann die UN-Behindertenrechtskonvention kennen, das Bundesteilhabegesetz, Behindertengleichstellungs-gesetz und andere Gesetze. Die Arbeitsgemeinschafft einer Partei kann auf Fachleute zugreifen. Es ist also sehr viel einfacher. Dazu kommt, der Druck auf die vorhandenen Parteien muss wachsen und das geschieht durch eine starke Arbeitsgemeinschaft, die sich für behinderte Menschen einsetzt. Weitere Fragen an:[email protected]

Von heiko1960

"Dürft ihr den Sandkasten schon verlassen?" Dazu möchte ich bemerken, das behinderte Menschen sich zu wenig engagieren. Sollte sich das ändern, dann würden auch behinderte Menschen eine Partei im Land- oder Bundestag vertreten. Aus der Frage entnehme ich, das Parteienkritiker nicht in der AG Selbst Aktiv engagiert ist. Deshalb nehme ich an, das es eine Arbeitsgemein-schaft von den Grünen oder der Partei "Die Linke" ist, der er an-gehört. Ich kann mit Kritik umgehen, mir stinkt es aber, wenn so geurteilt wird, wie es Parteienkritiker macht. Hilft er selber mit, das behinderte Menschen den "Sandkasten" verlassen, das behinderte Menschen in den Land- oder Bundestag kommen. Wie aktive politische Arbeit der AG Selbst Aktiv bzw. eine seiner Gruppen praktiziert wird, darüber hat er nach meiner Einschätzung auch kein Wissen. Über [email protected] kann Verbindung mit mir aufgenommen werden.

Von hutho

Links sind erwünscht. Die Redaktion.

Von Wombat

Ich kämpfe aktuell sehr aktiv, aber leider steht man meistens alleine gegen die Goliaths da und wird schon deshalb leicht platt gemacht, weil die Behörden am längeren Hebel sitzen.

Wir haben auf Facebook eine Gruppe zum Persönlichen Budget gegründet, um auch Informationen etwas mehr zu bündeln. Da ich jetzt nicht weiß, ob ich sie hier verlinken dürfte, lasse ich es lieber, aber falls ich es darf, hole ich es gerne nach.

Mein Hauptziel ist es, daß das PB deutschlandweit einheitlich und im besten Sinne für die Behinderten hilfreich angeboten werden muß und daß die diversen unfairen Tricksereien der Behördenmitarbeiter, die einen nicht mal über diesen Rechtsanspruch informieren, aufhören müssen. Die einheitiliche Regelung deshalb, damit nicht jedes Bundesland, jeder Bezirk und jede sonstige Behörde das PB anders interpretiert und umsetzt, denn nur so kommt man dann auch mit einer klaren Gesetzgebung, mit der sich dann auch endlich mal die Anwälte bundesweit auskennen würden, endlich mal voran. Ohne Anwalt ist man in vielen Fällen aufgeschmissen, oder man muß (aktuell) selbst erst mal ein halbes Jurastudium machen, um zu seinem RECHT zu kommen, wenn man nicht das außergewöhnliche Glück hat, an informierte und faire Sachbearbeiter im idealen Bundeland zu geraten.

Ich bin gerne bereit mich mit anderen zu vernetzen.

Von Parteienkritiker

Ich habe auch schon einige SPD-AktivistInnen des Parteinetzwerks SelbstAktiv kennengelernt... Dürft Ihr denn den Sandkasten schon verlassen - bzw. lassen Euch die "Großen" und Etablierten in der SPD schon auf sicheren Listenplätzen für Bundes- und Landtagswahlen kandidieren? DARAN wird die politische Wählbarkeit von (allen!) Parteien zu messen sein...!

Von Lukas

Ja, die Behinderten müßten politisch aktiver werden und ihre Kräfte bündeln. Am Liebsten wäre es mir, wenn wir eine eigene Partei gründen würden oder aber eine Partei untertützen würden, die sich wirklich für uns einsetzt.
Seit meinem Unfall und der dadurch bedingten Behinderung habe ich viele Behindertengruppen, -vereine, - verbände etc. kennengelernt und bin immer wieder überrascht, in wie viele Grüppchen die Behindertenbewegung zersplittert ist. Eine schlagkräftige Truppe wird so nie daraus. Leider! Vielleicht sollte man erst einmal eine Homepage erstellen und alle Vereine, Verbände etc. zusammentragen. Dann könnte man überlegen, wie man daraus eine starke Gemeinschaft formt. So nach dem Motto: Gemeinsam mehr erreichen!

Von heiko1960

Ich leite die Gruppe der Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv - behinderte Menschen in der SPD, im Unterbezirk Peine, die niedrigste Ebene für Arbeitsgemeinschaftenin der SPD. In einer Arbeitsgemeinschaft, dort können auch Menschen mitarbeiten, die nicht zu der SPD gehören. Dies Angebot machen wir den Menschen. Die Aktivisten zum BTHG haben viel erreicht, wir können aber noch mehr erreichen. Dazu benötigen wir aber die Hilfe dieser Aktivisten. Engagiert Euch und das geht, wegen der Struktur, am besten in der SPD. In der Kommune, vor Ort etwas zu bewirken, sich für behinderte und ältere Menschen einsetzen, diese Politik macht Spaß und man sieht, wenn man etwas erreicht.