Mittlerweile mehr Behinderte in eigener Wohnung als im Heim

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

Guntram Schneider
Guntram Schneider
Bild: Ralph Sondermann

Münster (kobinet) In Nordrhein-Westfalen leben nach neuesten Zahlen mittlerweile mehr Menschen mit Behinderungen in der eigenen Wohnung als in Heimen oder anderen stationären Einrichtungen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich ihre Zahl verfünffacht: von rund 10.000 im Jahr 2003 auf heute mehr als 50.000, heißt es aus dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium.

"Das ist ein großartiger Fortschritt", sagte der nordrhein-westfälische Sozialminister Guntram Schneider in Münster beim Besuch eines integrativen Wohnhauses der Lebenshilfe, wo Menschen mit und ohne Behinderungen in 20 Wohneinheiten in einer großen Hausgemeinschaft zusammen leben. "Das Wohnen in den eigenen vier Wänden mit individueller Unterstützung ist eine wichtige Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich bin stolz darauf, dass wir es in Nordrhein-Westfalen hinbekommen haben, so vielen Menschen mit Behinderung ein Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen", so der Minister.

Im Jahr 2003 lebten in Nordrhein-Westfalen erst rund 10.000 Menschen mit Behinderungen ambulant betreut in der eigenen Wohnung, etwa 43.000 Personen waren stationär untergebracht. Laut aktueller Statistik lebten am 31.12.2012 50.552 in der eigenen Wohnung, 43.186 in stationären Einrichtungen. "Wir wollten die ambulanten Wohnmöglichkeiten ausbauen. Im Jahr 2003 wurde daher die Verantwortung für die ambulanten und stationären Wohnhilfen bei den Landschaftsverbänden zusammengeführt", so Guntram Schneider. Seitdem wurde ein Netz von in der Gemeinde verankerten Unterstützungsangeboten aufgebaut. Das Sozialministerium hat den Prozess steuernd begleitet. "Damit konnten wir den bis dahin stetigen Anstieg der Zahl in Heimen lebender Menschen mit Behinderungen zum Stillstand bringen", bilanzierte der Minister.

Ambulant betreutes Wohnen umfasst alle notwendigen Hilfen, die Menschen mit Behinderungen brauchen, um im Alltag zurechtzukommen, beispielsweise Unterstützung im Haushalt oder bei Behördengängen und bei der Freizeitgestaltung, aber auch Begleitung bei der Bewältigung von Konflikten, Krisen und schwierigen Lebensphasen. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen verlangt seit 2009 unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können, wo und mit wem sie leben wollen. "Dies ist schon seit vielen Jahren Leitlinie der Landesregierung und ist nun auch ein wichtiges Kapitel im Aktionsplan 'Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv', den wir im vergangenen Jahr vorgelegt haben", erklärte der nordrhein-wesfälische Sozialminister.

Der Aktionsplan enthält mehr als 100 Maßnahmen aus allen politischen Handlungsfeldern, mit denen die Vorgaben der UN-Behindertenrechts­konvention in Nordrhein-Westfalen umgesetzt werden sollen. "Wir müssen nicht nur bauliche Barrieren abbauen, sondern auch die Barrieren in den Köpfen. Wir brauchen eine neue Kultur inklusiven Denkens und Handelns. In einer Gesellschaft für alle müssen alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, ganz selbstverständlich in allen Lebensbereichen teilhaben können – sei es in der Ausbildung, der Arbeit, dem Wohnen oder in der Freizeit", so Guntram Schneider.

Lesermeinungen zu “Mittlerweile mehr Behinderte in eigener Wohnung als im Heim” (3)

Von Inge Rosenberger

Wie viele der in der eigenen Wohnung lebenden Menschen haben einen sehr hohen Betreuungsbedarf? Wer setzt sich für die Menschen ein, wenn diese durch die Art und Schwere der Behinderung nicht für sich selbst sprechen können?
Haben sie die gleichen Chancen wie andere Menschen mit Behinderung? Oder fallen sie auch hier wieder aus den vorgegebenen Rastern des Kostenvorbehalts oder bleiben sie hängen an den nach wie vor bestehenden Schranken im Kopf ALLER Beteiligten?
Bisher nehme ich eine starke Hierarchie im Umfeld der Menschen mit Behinderung wahr, und es gibt derzeit nur ganz wenige Stimmen außerhalb der Elternschaft, die sich für eine Gleichberechtigung von Menschen, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, aussprechen.
Wie können wir von "der Gesellschaft" Inklusion fordern, wenn dies nicht mal innerhalb der Gruppe der behinderten Menschen möglich scheint?

Von Sabine Fichmann

Mich wundert, dass die Zahl der stationär untergebracht stagniert. Sollte es nicht so sein, dass diese gesunken ist, will man denn von einem Erfolg sprechen?
Habe mir die Mühe gemacht, den vielgespriesenen Aktionsplan "Eine Gesellschaft für alle- NRW inklusiv" komplett zu lesen: viele schöne Worte, viele, viele Beteiligte ( die wenigsten allerdings selbstbetroffen) und eigentlich hätte ich nach dem Satz: "Alle Maßnahmen des Aktionsplans stehen unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel." nicht weiterlesen brauchen..............

Von Gisela Maubach

Zitat aus dem Beitrag:

„Der Aktionsplan enthält mehr als 100 Maßnahmen aus allen politischen Handlungsfeldern, mit denen die Vorgaben der UN-Behindertenrechts¬konvention in Nordrhein-Westfalen umgesetzt werden sollen. "Wir müssen nicht nur bauliche Barrieren abbauen, sondern auch die Barrieren in den Köpfen. Wir brauchen eine neue Kultur inklusiven Denkens und Handelns. In einer Gesellschaft für alle müssen alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, ganz selbstverständlich in allen Lebensbereichen teilhaben können – sei es in der Ausbildung, der Arbeit, dem Wohnen oder in der Freizeit", so Guntram Schneider.“

Die „neue Kultur inklusiven Denkens“ von Guntram Schneider wurde uns auch gerade schon am 4. Juli vorgestellt – und zwar mit fast identischer Wortwahl hier:
http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/27118/Ideenschmiede-f%C3%BCr-die-Inklusion-in-der-Kommune.htm
Der Absatz mit der „Kultur inklusiven Denkens“ war dabei fast identisch – nämlich:

"Mit mehr als 100 Maßnahmen aus allen politischen Handlungsfeldern sollen die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention auf Landesebene umgesetzt werden. "Vor allem aber brauchen wir eine neue Kultur inklusiven Denkens und Handelns. Wir müssen nicht nur bauliche Barrieren abbauen, sondern vor allem die Barrieren in den Köpfen. In einer Gesellschaft für alle müssen alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung, ganz selbstverständlich in allen Lebensbereichen teilhaben können – sei es in der Ausbildung, der Arbeit, dem Wohnen oder in der Freizeit", erklärte Guntram Schneider.“

Sehr geehrter Herr Schneider, leider erfahren wir immer noch nichts über die Pläne für den Tagesablauf von Menschen mit schwersten Behinderungen, die (momentan) alternativlos in sogenannten heilpädagogischen Gruppen in jeweils zweistelliger Anzahl in den Werkstätten zusammengefasst werden. Welche Kultur inklusiven Handelns darf hier für die Tagesstruktur dieser Menschen erwartet werden? Warum dürfen diese Menschen die "Eingliederunghilfe", die an die Werkstatt gezahlt wird, nicht als Persönliches Budget benutzen?