Noch 6 Tage bis zur Bundestagswahl

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

Huw Ross
Huw Ross
Bild: Shelly Ross

Berlin (kobinet) Huw Ross kann sich an der kommenden Bundestagswahl als britischer Staatsbürger zwar nicht beteiligen, sechs Tage vor der Bundestagswahl macht er sich als jemand, der einen hohen Unterstützungsbedarf hat und unterstützte Kommunikation nutzt, dafür stark, dass Politikerinnen und Politiker die Meinung behinderter Menschen ernst nehmen. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Huw Ross folgendes schriftliches Interview.

kobinet-nachrichten: Als langjähriges Vorstandsmitglied von Mensch zuerst, dem Netzwerk von Menschen mit Lernschwierigkeiten, haben Sie es ja immer wieder mit der Politik zu tun. Beteiligen Sie sich am 22. September auch an der Bundestagswahl? Und wenn, wählen Sie im Wahllokal oder per Briefwahl?

Huw Ross: Ich bin britischer Staatsbürger. Ich gehe zu den Wahlen im Bezirk in Berlin - das sind Kommunalwahlen - und zu der Europawahl. Mein Vater geht zur Bundestagswahl wählen. Ich finde es wichtig, selber hinzugehen, ins Wahllokal, wenn man's kann. Es ist ein gutes Gefühl, ich beteilige mich an einem demokratischen Ereignis. Und ganz besonders wichtig ist es, dass man sieht, dass Menschen mit Behinderungen und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf wählen gehen. Die Leute sollen uns sehen! Es ist auch wichtig zu wissen, dass man eine Unterstützungsperson mit in die Wahlkabine nehmen darf, wenn man's braucht. Das steht im Bundeswahlgesetz. Das ist unser Recht. Natürlich kann uns niemand einreden, welche Leute oder welche Partei wir wählen! Aber nicht alle Wahllokale sind barrierefrei. Manchmal braucht man Unterstützung, und die darf man haben. Wichtig ist aber: GEHT WÄHLEN!

kobinet-nachrichten: Als Mensch mit hohem Unterstützungsbedarf schauen Sie bestimmt besonders kritisch auf die Politik und Behindertenarbeit. Was ist für Sie bei der Bundestagswahl besonders wichtig?

Huw Ross: Das ist eine große Frage. Natürlich sagen alle Leute in der Politik, dass sie immer das Beste für Menschen mit Behinderung tun wollen. Leider sagen sie aber oft: "für die Behinderten", als ob wir zu einer besonderen Gruppe gehören. Bei manchen Politikerinnen und Politikern glaube ich das auch - dass sie wirklich was tun wollen. Aber ich finde drei Sachen nicht in Ordnung, die ich auch in den Reden für die Bundestagswahl immer wieder höre und sehe. Erstens wissen sie einfach zu wenig. Zu wenig über die Dinge, die wir wollen und die wir brauchen. Sie haben eigene Vorstellungen, sie denken, dass sie schon wissen, was für ein Leben wir haben oder führen möchten. Und das ist das zweite Problem für mich: zu oft fragen sie uns nicht. Es ist für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf etwas schwieriger, an Diskussionen teilzunehmen. Man braucht manchmal einfach mehr Zeit und man muss manchmal Assistenz organisieren. Das ist aber alles kein Grund, uns nicht zu fragen. Wir müssen immer aufpassen, dass niemand meint, er könnte "für uns sprechen". Das möchten wir wirklich selber. Und wenn man Unterstützung hat, geht das auch.

Mein dritter Punkt: die Leute aus der Politik beachten die Gesetze nicht. Was meine ich hier? Seit 2009 ist die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ein Gesetz in Deutschland. Das ist ein gültiges Gesetz, das hat jeder zu beachten. So wie die Straßenverkehrsordnung. Aber das tun die Regierungen nicht, ich meine hier die Regierungen im Bund und in den Ländern und in den Kommunen. Es gibt einen langen Bericht über die Art und Weise, wie diese Konvention, dieser Vertrag, in Deutschland umgesetzt wird oder eben nicht umgesetzt wird. Der Bericht ist von einer großen Gruppe von vielen Organisationen und Vereinen geschrieben worden: die "BRK-Allianz". Ich habe in der Koordinierungsgruppe der Allianz für Mensch zuerst mitgearbeitet, mein Vater hat für die Eltern mitgearbeitet. In dem Bericht stehen einfach ganz viele Sachen, die für Menschen mit Behinderung und für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf geändert werden müssen, damit wir als Bürgerinnen und Bürger an unserer Gesellschaft hier in Deutschland teilhaben können. Beispiele:  dass Kinder in die allgemeine Schule mit anderen Kindern lernen können. Dass man Unterstützung und Assistenz bekommen kann, wenn man auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten möchte. Dass man Hilfen für die Kommunikation bekommen kann. Und dass Selbstvertretungsvereine wie Mensch zuerst die Möglichkeit haben müssen, sich zu organisieren. Diese Möglichkeit haben wir natürlich jetzt schon, aber wir haben zu oft kein Geld dazu. Für die politische Vertretung braucht man Geld, und das haben wir kaum, denn viele Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bekommen Sozialhilfe auf irgendeine Weise, und dann haben sie kein Geld, das sie nicht für den eigenen Alltag brauchen. Wenn man etwas verdient oder erbt oder geschenkt bekommt, wird dieses Geld immer auf die Sozialhilfe angerechnet. Das ist sehr ungerecht.

Ich wünsche mir wirklich, dass die Leute aus der Politik die Behindertenrechts-Konvention umsetzen würden! Sie haben sie beschlossen!

kobinet-nachrichten: Was halten Sie davon, dass Menschen, die in allen Bereichen unter gesetzlicher Betreuung stehen, nicht wählen dürfen?

Huw Ross: Das ist ein Skandal! Dass das geändert werden muss, steht auch in dem Bericht der brk-allianz. Es ist so: wenn jemand eine rechtliche Betreuung "in allen Angelegenheiten" hat, dann kann dieser Mensch nicht wählen oder gewählt werden. Niemand weiss wirklich, wie viele Menschen davon betroffen sind. Es ist nicht das Selbe wie "einen rechtlichen Betreuer oder eine rechtliche Betreuerin haben". Viele Leute haben eine rechtliche Betreuung in verschiedenen Teilen des Lebens: Finanzen, Gesundheit, wo darf man wohnen. Über eine Million Menschen haben in Deutschland diese Art der Betreuung. Nur wenn ein Richter die "rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten" anordnet, hat man kein Wahlrecht. Wir wissen überhaupt nicht, warum und mit welchen Begründungen das gemacht wird. Es muss abgeschafft werden! Und man muss wirklich aufpassen, dass niemand sagt, "du hast eine Betreuung, dann darfst Du nicht wählen".

kobinet-nachrichten: Was wünschen Sie sich für Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit Mehrfachbehinderungen?

Huw Ross: Ganz allgemein: man traut Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit Mehrfachbehinderungen einfach zu wenig zu. Meistens bekommt man dieses Etikett als Kind und dann geht man in eine Förderschule, weil die "zuständig" ist. Und dann geht man in eine Werkstatt für behinderte Menschen, weil auch diese "zuständig" ist. So was hört man auch in den Medien, dass die Werkstatt für behinderte Menschen "für Menschen mit Lernschwierigkeiten zuständig ist". Aber als erwachsener Mensch hat man kaum Möglichkeiten, sich weiter zu bilden. Vor allem, weil man Menschen mit Lernschwierigkeiten zu wenig zutraut. Ich wünsche mir folgendes: dass man uns durch das ganze Leben Unterstützung gibt, damit wir immer weiter Sachen lernen können. Unterstützung bedeutet auch: Hilfe in der Kommunikation, Hilfe für die Wege, Geld für die Kosten, aber auch Leute, die ausgebildet sind, um erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten und Mehrfachbehinderungen beim Lernen zu helfen. Auch wenn sie älter werden oder wirklich ziemlich alt sind.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.