Geschockt über Diskriminierung im Pflegestärkungsgesetz

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

Ulla Schmidt
Ulla Schmidt
Bild: Irina Tischer

Berlin (kobinet) Wie wichtig es ist, bei den behindertenpolitischen Vorhaben der Bundesregierung genau hinzuschauen, zeigt sich nicht nur beim Bundesteilhabegesetz. Nun schockiert eine weitere Regelung im geplanten Pflegestärkungsgesetz die Verbände. War es bereits eine große Enttäuschung, dass viele behinderte Menschen, die in Wohnstätten leben dort auch in Zukunft von Pflegeversicherungsleistungen weitgehend ausgeschlossen sind, will die Bundesregierung diese Diskriminierung auch nun noch auf eine Vielzahl von ambulant betreuten Wohngemeinschaften ausweiten.

"Das ist absolut inakzeptabel", erklärte Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Die Lebenshilfe ist alarmiert, dass künftig Menschen mit Behinderung in ambulant betreuten Wohngemeinschaften statt wie bisher bis zu 1.612 Euro nur noch 266 Euro aus der Pflegeversicherung zur Verfügung stehen sollen. Die Möglichkeiten, ambulant betreut zu leben, werden sich nach Ansicht der Lebenshilfe gerade für Menschen mit hohen Unterstützungsbedarfen dadurch erheblich verschlechtern. Ohne diese Finanzierung drohten sie ihr Zuhause zu verlieren. Dies stehe im Widerspruch zu dem Grundsatz "ambulant vor stationär" und den Zielen des Gesetzgebers. "Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung sind Mitglieder der Pflegeversicherung und zahlen Beiträge wie alle anderen auch. Sie müssen daher auch die gleichen Leistungen bekommen – unabhängig davon, wo sie leben", fordert Ulla Schmidt.

Auch vonseiten des Bundesverbandes evangelischer Behinderteneinrichtungen hagelte es scharfe Kritik an der Gesetzesinitiative der Bundesregierung. Das Pflegestärkungsgesetz III soll nach Ansicht der Bundesregierung die Situation pflegebedürftiger Menschen verbessern, entpuppt sich nun aber ähnlich wie das Bundesteilhabegesetz zunehmend zu einer Bedrohung für behinderte Menschen in einigen Bereichen. Diese geplante Benachteiligung wird heute bei der Käfig-Aktion um 10:00 auf dem Washington Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof sicherlich auch Thema sein. Denn die Kluft zwischen rhetorischen Beschwörungen, dass mit den Gesetzesvorhaben, die die Bundesregierung derzeit auf den Weg bringt, und den Realitäten, die in den Detailregelungen lauern, werde nach Ansicht von Ottmar Miles-Paul, dem Koordinator der Kampagne für ein gutes Bundesteilhabegesetz, immer größer, wie die negative Überraschung im Pflegestärkungsgesetz III nun zeige.

Lesermeinungen zu “Geschockt über Diskriminierung im Pflegestärkungsgesetz” (9)

Von Rosi Nante

Wie kann Frau Schmidt so geschockt sein, nachdem sie vor einigen Jahren die gleiche Forderung, die als Petition eingereicht wurde, noch selbst abgelehnt hat? Hier kann man die Petition und die Begründung für die Ablehnung noch nachlesen: https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2007/_11/_21/Petition_560.nc.html
Frau Schmidt war, ist und bleibt in allen Bereichen unglaubwürdig!

Von Susanne v.E

Auf meine Nachfrage bei einer sehr kompetenten Stelle , ob zukünftig ambulant betreute WGs nur noch die Pflegepauschale erhalten werden, erhielt ich folgende Antwort:

"Wobei das BTHG das problematischere Gesetz ist, da es quasi die Einrichtung neu definiert, so dass auch ambulant betreute WGs darunter fallen, und in diese werden dann bzgl. der SGB XI-Leistungsgewährung so behandelt wie vollstationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe".Dh: tatsächlich nur die Pflegepauschale von 266€ statt 1612€ pP /Monat für ambulant betreute WGs

Wieso ist Frau Schmidt, die doch Werbereisen für das BTHG veranstaltet ,da geschockt?
Oder hat sie bisher das von ihr angepriesene Gesetz und seine katastrophalen Folgen selbst noch nicht verstanden?
Oder war der Plan ein anderer: Der Begriff der "Häuslichkeit "sollte ausgedehnt werden auf stationäre Einrichtungen, damit auch Einrichtungen den vollen Betrag und nicht nur die Pauschale erhalten. Stattdessen werden jetzt ambulant betreute WGs per Gesetz zu stationären Einrichtungen, mit den og Folgen. Da ist der Schuss völlig nach hinten losgegangen. Wenn es nicht so schrecklich wäre.....!
Mir fällt zu Politikern bald nur noch ein: "denn sie wissen nicht, was sie tun".
Es kann einem nur noch schlecht werden.

Von Gisela Maubach

Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ist also geschockt, dass am 26. April ein Referentenentwurf für das PSG III vorgelegt wurde, in welchem "die Bundesregierung" die Diskriminierung auf eine Vielzahl von ambulant betreuten Wohngemeinschaften ausweiten wolle.

Interessant dazu folgender Link:

http://www.paritaet-alsopfleg.de/index.php/pflegerische-versorgung/pflege-allgemein/4845-psg-iii-referentenentwurf-fuer-ein-drittes-gesetz-zur-staerkung-der-pflegerischen-versorgung-und-zur-aenderung-weiterer-gesetze-psg-iii

Als Inhalt wird da insbesondere angegeben:

• Abgrenzung Leistungen der Pflegeversicherung/Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe

Und dann:

"Für eine eingehende Befassung mit dem PSG III erscheint auch der Querverweis auf den Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) empfehlenswert."

Mittlerweile entsteht der Eindruck, dass schwerstbehinderte Menschen für Streitigkeiten zwischen dem CDU-geführten Gesundheitsministerium und dem SPD-geführten BMAS instrumentalisiert werden, ohne dass für diese Menschen tatsächlich eine personenzentrierte Bedarfsfeststellung gewollt ist, weil beide Parteien jeweils ganz andere Interessen verfolgen.

Innerhalb des Elternschreibens von elerbeki an alle Bundestagsabgeordneten wurde übrigens auch auf den Ausschluss von Eingliederungshilfe im BTHG-Entwurf im häuslichen Umfeld hingewiesen, weil laut § 91 Abs. 3 im häuslichen Umfeld die Leistungen der Pflegeversicherung vorrangig sein sollen.
Nur außerhalb (!) des häuslichen Umfelds sollen die Leistungen der Eingliederungshilfe "vorgehen".

Wie passt das mit dem "Geschockt-sein" über Diskriminierung im PSG III zusammen?

Wir Eltern erwarten auch noch eine Antwort auf unser eigenes "Geschockt-sein" über den geplanten Ausschluss von Sozialer Teilhabe, weil laut § 102 Abs. 2 BTHG ein Werkstatt-Platz vorrangig sein soll.

Von ockis

ZITAT:
..."(Berlin) - Es war bereits eine große Enttäuschung: Viele Menschen mit Behinderung leben in Wohnstätten und sind dort auch in Zukunft von Pflegeversicherungsleistungen weitgehend ausgeschlossen. Jetzt will die Bundesregierung diese Diskriminierung nun noch auf eine Vielzahl von ambulant betreuten Wohngemeinschaften ausweiten. Das ist absolut inakzeptabel, so die Auffassung des BeB und anderer Fachverbände für Menschen mit Behinderung."....
(ZITATENDE)

http://www.verbaende.com/news.php/BeB-geschockt-ueber-Diskriminierung-Bundesregierung-legt-Pflegestaerkungsgesetz-III-vor?m=110737

Statt die Diskriminierung von behinderten Menschen in Wohnstätten rückgängig zu machen wird die Diskriminierung ausgeweitet.....

Wissen die Verantwortlichen überhaupt
was INKLUSION bedeutet ???

Von Isolde

Mich schockiert diese Nachricht sehr, dass Menschen mit Behinderung scheinbar immer mehr eingeschränkter werden in ihrer Entwicklung, in der Freiheit so leben zu können wie sie es möchten.

Mich schockiert aber auch der Artikel zu den angestrebten Medikamentest an Pflegefällen - da wird es mir schlecht.

Es kann einem nur noch Angst und Bange werden vor dem Augenblick in dem ich meine Augen schließe und nicht mehr mitverfolgen kann, was mit meinem Sohn geschieht - wenn sich nicht andere Personen (rechtl. Betreuer) ganz arg dafür stark machen und ein arges Auge darauf werden, was mit ihren zu Betreuenden geschieht.

Das habe ich mir so vor 19 Jahren nicht vorgestellt - und ganz ehrlich, parallel dazu gibt es die Entwicklungen für Tests um von vornherein Behinderungen festzustellen in der "legalen" Frist von 12 Schwangerschaftswochen, ggf. mit dem Ziel sie abtreiben zu lassen.
Auch wenn ich es nie getan hätte oder tün würde - aber verstehen kann ich nach 19 Jahren mittlerweile viele Eltern die sagen, durch diese Mühlen mögen sie ihr Kind nicht hindurchtragen wollen.

Man bekommt das Gefühl, Menschen mit Behinderungen sind nur noch eine Last für alle Kassen und den Staat. Hat einer mal von den Verantwortlichen darüber nachgedacht, wie sich die Betroffenen und ihre Angehörigen fühlen?

Da wiederum kann ich nur dankbar sein, dass mein Sohn all diese Tragweite nicht erfassen kann, und einfach nur in seiner Welt lebt und darin glücklich ist.

Was ist das Ziel für diese Ideen, für diese Beschneidungen?

Was haben die Menschen mit Behinderung jemals den Verantwortlichen getan?

Hat einer mal darüber nachgedacht von den Verantwortlichen, dass er morgen in genau die gleiche Lage kommen kann - will er dann so leben, wie die Gesetze es für ihn dann vorgeben?

Von Rosi Nante

Auf welche Textstelle vom PSG-III-Entwurf bezieht Ulla Schmidt sich eigentlich bei ihrer Aussage? Kennt die jemand hier?

Von Susanne v.E

... könnte man noch die Situation der Menschen mit Behinderung und die der pflegenden Angehörigen so weit verschärfen, dass diese aufgrund von Überlastung, Überforderung und wegen des Leids, das entsteht, wenn man aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, gar nicht mehr das Rentenalter erreichen. Auf diesem Wege könnte man sich prima die ärgerlicherweise so lange bezahlten Beträge zurückholen.
Ich glaube, ich muss mir keine Gedanken darüber machen, wie man diese Idee in ein Gesetz verpacken kann. Deutschland mit der sozialen Rolle rückwärts wird da in seinen Behörden sicher genug findige Köpfe haben.

Von Susanne v.E

Das Pflegestärkungsgesetz verschlechtert noch in einem weiteren Punkt die Situation der Menschen mit Behinderung: Zusätzliche Betreuungsleistungen, bisher auf Antrag 208€mtl., werden auf pauschal 125€ festgesetzt. Das bedeutet in vielen Fällen, dass für eine Leistung, die Teilhabe am Leben ermöglichen kann und eben nicht Pflegeleistung ist, eine monatliche Kürzung um 83€ mtl,jährlich 996€.

Alle Gesetzesänderungen haben offensichtlich nur ein Ziel: weitere Exklusion der Menschen mit Behinderung und Pflegestufe.
Ganz sicher wird auch das BMAS im Laufe des nächsten Jahres seine Anweisung, Menschen mit Behinderung verbleiben in Regelbedarfstufe 3, so konkretisieren, dass auch da die Gleichstellung mit Regelbedarfstufe1 zurückgenommen wird. Das es ein anders lautendes Urteil des BSG gibt ist dabei ohnehin egal. Man kann zwar klagen, aber die Gerichte werden sicher einen Weg finden im Sinne des BMAS zu urteilen. Man wird schon nachweisen können, das der behinderte Mensch keinen
Anteil an der Haushaltsführung hat.
Alles ganz prima Einsparmodelle.
Ich habe da auch noch einen Vorschlag mit Einsparpotenzial, vermutlich ist aber schon eine Arbeitsgruppe vor mir auf die Idee gekommen und arbeitet bereits an der Umsetzung:
Für pflegende Angehörige zahlt die Pflegekasse in die Rentenversicherung. Ursprünglich ging man davon aus, dass alte Angehörige gepflegt werden, bedeutet eine geschätzte Einzahlung von 10-15 Jahren. Jetzt gibt es doch tatsächlich pflegende Angehörige, die ihre pflegebedürftigen Kinder weitaus länger pflegen. Was das kostet über 30-40 Jahre! Hier könnte man hervorragend einsparen, wenn man aus "Gründen der Gleichbehandlung" die Einzahlung in die Pflegekasse zeitlich begrenzt, auf die durchschnittliche Pflegedauer. Sollte sich dieser Vorschlag nicht durchsetzen können, (Fortsetzung folgt....)

Von Inge Rosenberger

Wenn schwerstbehinderte Menschen beim Teilhabegesetz und anderen Gesetzen weiterhin nicht berücksichtigt werden, besteht zunehmend die Gefahr, dass die Betroffenen künftig wieder gegen den Status „Pflegefall“ kämpfen müssen.

Quelle: https://elerbeki.wordpress.com/2015/08/20/pflegereform-chance-fuer-senioren-risiko-fuer-schwerstbehinderte-menschen/ (August 2015)

Kommentar an einer anderen Stelle:
"zusammen mit den angestrebten Medikamententests an Pflegefällen ... gibt das ein krudes Bild..."