„Die Guten ins Töpfchen…“ – befördert das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Entsolidarisierung mit den Schwächsten?

Veröffentlicht am von Roland Frickenhaus, Dresden

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Bild: Roland Frickenhaus

Wenn man das BTHG mal nicht als Gesetz, sondern als Spiegel des aktuellen Zeitgeistes liest, dann fallen zwei Formulierungen auf, die als Indikator dafür angesehen werden können, dass die freundlichen Damen und Herren um die ehemalige Arbeits- und Sozialministerin, Frau Andrea Nahles („Aber ab morgen kriegen sie in die Fresse!“), die ethische Dimension des Themas nicht voll im Blick gehabt zu haben scheinen.

Fangen wir mit dem Einfacheren an, nämlich der partizipativ angelegten Idee, Menschen mit Behinderungen in Entscheidungsprozesse einzubinden. So sollen beispielsweise die durch Landesrecht zu bestimmenden „maßgeblichen Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen“ bei der Erarbeitung und Beschlussfassung der Rahmenverträge mitwirken. Das klingt ja auf den ersten Blick nicht schlecht.

Allerdings stellt sich schon die Frage, ob es denn überhaupt „unmaßgebliche Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen“ gibt, bzw. geben kann.

Was ist denn unter „maßgeblich“ zu verstehen? Ist „maßgeblich“ eine qualitative oder eine quantitative Kategorie? Also, werden diejenigen an den Tisch geladen, von denen man annimmt, dass sie für eine Vielzahl von Betroffenen sprechen, oder sind die zu laden, die eine Vielzahl von Behinderungsformen repräsentieren. Oder sind diejenigen gemeint, mit denen man „auf Augenhöhe“ kommunizieren kann, auch wenn sie nicht die Mehrheit abbilden.

Welches Menschenbild steckt eigentlich dahinter, wenn man unterstellt, dass es maßgebliche (und damit folgerichtig auch unmaßgebliche) Interessenvertretungen gibt? Wer kann und darf das beurteilen und am Ende sogar festlegen? Was ist mit denjenigen, die aufgrund massiver Beeinträchtigungen gar nicht wissen, dass es ein Bundesteilhabegesetz gibt? Wer spricht für die, die sich selbst verletzen, die stundenlang monotone Geräusche und Bewegungen produzieren die sich einigeln und abschotten vor einer Welt, die ihnen keine Sicherheit gibt und in die sie sich verloren haben?

Auf wie viele facebooknutzende Rollstuhlfahrer, die undercover mal in ein Heim reinschnuppern, kommen eigentlich nicht facebooknutzende „stationär untergebrachte“ Menschen mit Behinderung, die, allerhöchstens im „Bewohner-Urlaub“ mal, in das normale Leben reinschnuppern (können) -quasi „undercover“?

Damit das klar ist: Es geht nicht um "entweder oder", sondern um "sowohl als auch". Selbstverständlich braucht es Aktivisten und diejenigen, die mit Mut und Phantasie voran gehen. Mit der Vorgabe aber, „maßgebliche Interessenvertretungen“ zu bestimmen, ist ein Denken hoffähig geworden, das die Kraft hat, eine Spaltung und Entsolidarisierung innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen zu bewirken.

Und die klaren Verlierer eines solchen Prozesses wären dann die Menschen, denen das Schicksal so komplexe Beeinträchtigungen zugedacht hat, dass sie sich eben nicht selbst vertreten können. Wer nur eine „handverlesene“ Gruppe von Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen lässt, und dann vollmundig kommuniziert, dass „die Behinderten“ doch beteiligt wurden, hat das Spektrum nicht realisiert und darf sich ruhig den Vorwurf der Ausgrenzung gefallen lassen.

Die klare Forderung: Auch Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen sind zu beteiligen! Und wo dies nicht möglich ist, haben deren Freunde und Fürsprecher das Wort. Und wenn auch das nicht möglich ist, dann stellt wenigstens einen leeren Stuhl in Eure Beratungsräume, der unbesetzt bleibt und so an diese Gruppe unter den Menschen mit Behinderungen erinnert, die "unmaßgeblich" ist.

Und eine zweite kritische Formulierung zieht sich durch das BTHG. Es handelt sich hierbei um die Formulierung, dass Menschen mit Behinderungen „Experten in eigener Sache“ seien. Das klingt nach Augenhöhe und dass man als Mensch ohne Behinderung, zu schweigen habe, weil man über Dinge rede, von denen man keine Ahnung hätte. Das ist ja auch absolut in Ordnung so.

Aber auch hier sollte man nicht zu schnell zustimmend nicken und stattdessen genauer hinschauen: Sind eigentlich drei Menschen mit Behinderung drei Experten, von denen auch jeder gleichzeitig Experte der anderen Beiden ist, oder ist jeder (nur) sein eigener Experte? Und wie sieht es eigentlich aus, wenn sich zu den Dreien noch ein Vierter gesellt, der weder schreiben noch lesen kann, der sich seiner Bedürfnisse nicht wirklich bewusst ist und der diese nicht so kommuniziert, dass sie gleich jeder versteht? Wessen Experte ist er?

Kann es sein, dass die Menschen ohne Behinderungen die Formulierung, Menschen mit Behinderungen seien „Experten in eigener Sache“ immer dann aus dem Hut zaubern, wenn sie den Menschen mit Behinderungen etwas Freundliches sagen wollen, und dabei aber nicht gern wahrhaben wollen, dass diese Formulierung nicht auf alle Menschen mit Behinderungen gleichermaßen zutrifft? 

Was nützt zudem der wohlwollend zuerkannte Expertenstatus, wenn der Sachbearbeiter einer Sozialbehörde einem Menschen mit Behinderungen, also einem „Experten in eigener Sache“, eine beantragte Leistung nicht gewährt? Es geht in diesem ganzen BTHG doch nur um die „Bremsung der Ausgabendynamik“ und nicht um Expertenkompetenz! Experten- statt Mehrkostenvorbehalt, das hätte eine Logik, liebe BTHG-Erfinder!

Das Spektrum „Behinderung“ ist so breit, dass es auch eine zahlenmäßig sehr große Gruppe von Menschen umfasst, die so komplex beeinträchtigt sind, dass es nicht zutreffend ist, sie als „Experten in eigener Sache“ zu bezeichnen!

Menschen ohne Behinderung hätten es gern, dass jeder Mensch mit Behinderung auch gleichzeitig immer  Experte in eigener Sache ist. So lässt sich abends entspannter zu Bett gehen. Aber es gibt sehr wohl Menschen mit Behinderung, die ohne Assistenz vor einem vollen Kühlschrank verhungern oder komplett verwahrlosen würden. 

Ja, und für alle BTHG-Junkies und Freunde der „Bildung von Gruppen von Hilfeempfängern mit vergleichbarem Hilfebedarf“: Es gibt von der Uni Tübingen eine Forschungsarbeit, die zu dem Schluss kommt, dass es Menschen gibt, deren Verhalten (Bedarf) so einzigartig ist, dass man es keiner Vergleichsgruppe zuordnen kann. Achtet vor lauter fleißigem Abarbeiten gesetzlicher Vorgaben darauf, dass Ihr den Schwächsten kein Unrecht tut!

Es besteht Anlass zu der Sorge, dass das BTHG die Gruppe der Menschen mit Behinderung spaltet und dass diejenigen, die man verantwortungsvoll als die Schwächsten zu bezeichnen hat, das Nachsehen haben werden. Sie wissen nicht, dass sie ein Wunsch- und Wahlrecht haben, sie können sich nicht selbst vertreten und sie sind auch nicht in der Lage, ihr Selbstbestimmungsrecht wahrzunehmen. Sie sind weder Experten in eigener Sache, noch werden sie in einer „maßgeblichen Interessenvertretung“ auftauchen. Stattdessen stehen sie in der Gefahr, die Verlierer bei der Personenzentrierung und insbesondere bei der „Schnittstelle Pflege“ (Da bekommt das Wort „Schnitt“-Stelle plötzlich eine beklemmende doppelte Bedeutung…) zu werden, während die Inklusions- bzw. Teilhabekarawane weiterzieht und Selfies bei „Diversity First“ postet.

 „Die Behindertenbewegung“ ist ein Mannschaftssport und den Sieg wird es nur gemeinsam geben. Wir kommen entweder gemeinsam an, oder wir scheitern gemeinsam.

Sehr deutlich zeigt sich, dass nicht alle in der Lage sind, das hohe Tempo zu halten. Statt Masseur und Physiotherapeut in die Kabine vorzulassen, faselt der Trainer was von „Experten in eigener Sache“ und stellt in Aussicht, bald auch eine „maßgebliche Interessenvertretung“ der Spieler empfangen zu wollen.

Wo sind eigentlich die Heil- und Sonderpädagogen, wo die Therapeuten und die Freunde und Fürsprecher all derer, die sich nicht artikulieren und die sich nicht selber aktiv einbringen können? Es ist auffallend ruhig geworden um einstige Persönlichkeiten, die mit markigen Worten Ethik und Menschenbild ins Lot zu rücken vermochten. Und in Fulda kann man mittlerweile auch gut Geld verdienen.

Es scheint, als habe sich die schweigende Mehrheit gefügt („Einsicht in die Notwendigkeit!“ oder: "Das muss man pragmatisch sehen!") und sei dem charmanten Lächeln des Trainers und dessen Phrasen aufgesessen und dabei komplett ausgeblendet, dass der Trainer immer dann gewinnt, wenn seine Mannschaft verliert...

 

 

 

 

Lesermeinungen zu “„Die Guten ins Töpfchen…“ – befördert das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Entsolidarisierung mit den Schwächsten?” (18)

Von kirsti

@ Sven Drebes
Daher ist der Begriff „Experte in eigener Sache“ auch so doppeldeutig, intransparent und kann von Jedermann, der eben „Nicht- Experte“ in der Sache des/derjenigen ist, den er angeblich vertritt, für eigene Zwecke gebraucht und „missbraucht“ werden.- Aber besteht nicht gerade die aufgeklärte Behindertenbewegung auf dem allgegenwärtigen Begriff „Experte in eigener Sache“? – Wenn man aber Behinderte, die sich nicht wehren können, über den Tisch zieht, und als Rechtfertigung angibt, sie seien doch „Experten in eigener Sache“, dann bekommt der Begriff „Experte in eigener Sache“ eine Bedeutung mit umgekehrtem Vorzeichen. Meine Meinung!

Von rgr

Was drängt ans Licht?
Ich bin mit der Erarbeitung und Beschlussfassung der Rahmenverträge zum BTHG auf Länderebene nicht vertraut. Zum Einfacheren bleibt mir die Frage offen, die da lautet: Wer oder was hat sich bezüglich dieser verantwortungsvollen Aufgabe öffentlich erklärt?

Von Sven Drebes

Hallo Kirsti,

für mich macht es eben schon einen Unterschied, welchen Hintergrund derjenige hat, der eine Aussage trifft. Genauso wie ein knackig konservativer CDU-Politiker sich nicht (unbedingt) aus denselben Motiven für Frauenrrechte einsetzt wie die Vorsitzende einer linken Fraueninitiative, bezweckt ein Wohlfahrtsverband mit Aussagen über bestimmte behinderte Menchen nicht (unbedingt) dasselbe wie wohlfahrtskritische behinderte Menschen oder ebensolche Angehörige. Wohlfahrtsverbände ziehen einen Teil ihrer Existenzberechtigung ja gerade daraus, dass sie bestimmten behinderten Menschen und deren Angehörigen das Expertentum in eigener Sache absprechen und statdessen ihre Expertise als (einzig) relevante darstellen. Wenn ein Mitarbeiter eines Wohlfahrtsverbands also schreibt, es gebe Menschen, die nicht "Experte in eigener Sache" sein können, drängt sich mir die Frage auf, ob damit nicht auch unausgesprochen die Folgerung mitschwingt, Wohlfahrtverbände müssten die Vertretung dieser "Nicht-Experten", quasi als "wohlmeinende Anwälte" weiterhin übernehmen, da es die Selbstvertretungsorganisationen nicht könnten. Bisher ist das den Wohlfahrtsverbänden ja recht gut gelungen, obwohl sie durchaus eigene Interessen verfolgen.

Von Dirk Hentschel

Ich möchte darauf hinweisen - wenn ich mir die UN BRK durcharbeite, komme ich zu dem Schluss das im Sinne dieser, jedem Menschen die selben Rechte zustehen! MENSCHENRECHTE nicht mehr aber auch nicht weniger!

Nun kommt "Deutschland" vertreten durch seine Politiker und etablierten Systeme und versucht, bedingt durch seine geschichtliche Vergangenheit (?) und dem immer mehr sich durchsetzendem neoliberalem Denken, Menschen einen WERT zuzuschreiben. Einen WERT im Sinne der VERWERTBARKEIT. Logisch dass hiermit VERLIERER regelrecht vorprogrammiert sind.

Auch der Mensch der sich selbst nicht vertreten kann ist im Sinne der UN BRK gleichberechtigt!

Warum gibt es die UN BRK überhaupt? Doch genau um diesem einen Riegel vorzuschieben?!

Und was macht Deutschland daraus?

Es würde nur helfen wenn ALLE Menschen mit Behinderungen am gleichen Strang ziehen würden, dann währen es an die 10 % der deutschen Bevölkerung. Und "treffen" kann es am Ende jeden der z.Z. Nichtbehinderten, genügend Beispiele dafür gibt es ......

Jede "Behinderungsart" für sich ist erfolglos bzw. sogar destruktiv im gesamten gesehen.

Dirk Hentschel

Von kirsti

Nochmal: Zum „Expertentum in eigener Sache“; es ist ein verzwicktes und dialektisches Problem! Und Herr Frickenhaus hat in welcher Funktion auch immer ins Schwarze und Nicht- Sagbare getroffen! – Man kann Menschen, eigentlich alle und besonders Schwache, so manipulieren, dass sie ihr eigenes – ich übertreibe bewusst – „Todesurteil“ unterschreiben. Auch wenn sie gar nicht schreiben können. Man kann jedermann in den Mund legen, dass diese oder jene Maßnahme besser sei als die andere – obwohl dies nicht seinem Nutzen dient, sondern gegenteilig seinen Untergang bedeutet.- Daher ist es so verzwickt, aus dieser Diskussion unbeschadet herauszukommen. Jeder Mensch braucht in heiklen Situationen Ratgeber! Und diese Ratgeber müssen ehrliche und ehrwürdige Ratgeber sein; ehrlich und ehrwürdig großgeschrieben.- Und das ist das Dilemma; ein Dilemma, das gerade in Diktaturen bedeutungsvoll ist und war. Ich denke, da haben wir Deutschen genügend Erfahrung. Und was für Diktaturen im Großen gilt, gilt im „Kleinen“; sprich für schwerbehinderte und alle anderen schwachen Personen ebenso. „Experte in eigener Sache“ ist auch ein Stück Manipulation, man tut so „als ob“, es braucht ehrliche Menschen, es braucht Fürsprecher - und keine Verbände, die Diktaturen im Kleinen gleichen.- Ich hoffe, dass ich dieses schwierige Problem irgendwie – so wie ich es meine zu erkennen –, einigermaßen deutlich und nicht verquast beschrieben habe. – Und natürlich ist dies immer nur (m)eine Sicht und Wahrnehmung der Dinge, denn die Allwissenheit maße ich mir nicht an, gepachtet zu haben.

Von Behindert_im_System

@vonRoland Frickenhaus

„Der Feststellung folgt nämlich geradewegs die Frage, wer denn noch Experte ist, und wer nicht mehr.“

Dreimal dürfen Sie raten!

Übrigens ehrlich wie ich immer bin, darf ich hier ausdrücken, dass ich von Ihnen eine derartige Kolumne niemals erwartet hätte und gehe mal davon aus, dass zwischenzeitlich richtig erkannt wurde, unsere Gemeinschaft der Menschen mit Behinderung ist eine gute Gemeinschaft, in welcher auch unsere schwächsten Leidensgefährten nicht vergessen werden sollten.

Ob dies gelingt bleibt abzuwarten, jedenfalls wäre es zu wünschen.

Frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr wünsche ich allen Lesern der Kolumne und geben wir die Hoffnung nicht auf beim Betreten dieses steinigen Weges.

Von Gisela Maubach

Lieber Dr. Drebes,

ich habe mich von Ihrer Darstellung, es sei "extrem gefährlich, bestimmten Menschen das Expertentum in eigener Sache rundweg abzusprechen" deshalb angesprochen gefühlt, weil Sie dies unmittelbar auf meinen Beitrag geschrieben haben und weil diese Reaktionen in der Vergangenheit ständig erfolgt sind, wenn ich dieses Thema vorgebracht hatte.

Und genau - ich kämpfe wie eine Löwin, damit mein Sohn ein Leben führen kann, das seinen Bedürfnissen entspricht.
Aber im vorliegenden Beitrag geht es halt um die Entsolidarisierung, die dafür verantwortlich ist, dass ich (!) bis über alle Belastungsgrenzen hinaus kämpfen muss, obwohl ich auch noch ein eigenes Leben habe und gehofft hatte, im Alter von 60 Jahren endlich mal an mich selbst denken zu dürfen.

Und es ist auch nicht nur mein (!) Sohn, der nicht in der Lage ist, sich selbst zu vertreten. Mir sind mehrere Eltern-Gruppen bekannt, die gerade damit beschäftigt sind, für ihre erwachsenen behinderten Kinder WGs zu gründen, weil Heime als Unterbringungsform ausscheiden. Und diese jungen schwerstbehinderten Menschen hätten ohne ihre extrem engagierten Eltern nicht die geringste Chance.

@ kirsti

Richtig - nicht jeder schwerstbehinderte Mensch, der sich nicht selbst vertreten kann, hat Eltern, die bis ins hohe Alter grenzenlos belastbar sind.
Wenn ich es richtig verstehe, geht es im vorliegenden Beitrag um eben diese Solidarisierung, die notwendig ist, um auch diesen Menschen statt einer einrichtungszentrierten eine personenzentrierte Leistung zu ermöglichen.

Von kirsti

Hallo Herr Dr. Drebes,

bin heute Morgen mal ganz bewusst provokant, auch wenn es mir nicht zusteht, für andere zu sprechen: Aber nicht jede/r behinderte Mensch hat eine Mutter oder einen Vater wie Frau M. als Fürsprecher und dennoch die gleichen Rechte, oder?

LG und schönen Advent

Von Dagmar B

Zwischen der Feststellung von Sven Drebes , man sollte einer bestimmten Gruppe das Expertentum nicht absprechen und der Feststellung von Frau Maubach , das individuelle Vertrauenspersonen sich zum Wohl einsetzen , sehe ich keinen Wiederspruch.
Expertentum in eigener Sache würde im Fall von Frau Maubachs Sohn bedeuten , das er mit "Schlagen " klar signalisiert , das er sich in der WfbM nicht wohl fühlt , da das ganz offensichtlich von der WfbM ignoriert wird , setzt sich die individuelle Vertrauensperson dafür ein , das die Situation geändert werden muß.
Ich teile die Auffassung von Herrn Drebes , den Begriff Expertentum in eigener Sache auch für den Personenkreis zu erhalten , die auf "individuelle Übersetzer " angewiesen sind.
Bedauerlicherweise werden Expertenäußerungen , die mit Aggressionen oder heftigen Gefühlen einhergehen überwiegend ignoriert oder als Problem gesehen , um dann mit Gewalt und pädagogischem Hokus Pokus Zwangsanpassung an Situationen zu veranlassen , die menschenrechtlich und ethisch in keiner Weise vertretbar sind.
Siehe Handreichung der Lebenshilfe zu herrausforderndem Verhalten.
Lösen läßt sich das Problem meiner Ansicht dadurch , das SELBSTVERSTÄNDLICH für keine Gruppe von behinderten Menschen unethische und menschenrechtlich nicht angemessene Angebote vorgehalten werden. Also grundsätzlich keine Massenverwahrung und keine Zwangsanpassung an lebensfeindliche Systeme .

Von Sven Drebes

Liebe Frau Maubach,

wieso fühlen Sie sich von "bevormundenden Strukturen" angesprochen? Sie tun doch alles dafür, dass Ihr Sohn ein Leben führen kann, das seinen Bedürfnissen entspricht.


Hallo Kirsti,

pragmatisch gefragt: Wie würden Sie sicherstellen, dass alle vom BTHG Betroffenen in den Vertragsverhandlungen usw. vertreten sind, ohne dass die Arbeitsfähigkeit der Struktur veroren geht? Da müssen sich die verschiedenen Gruppen auf 4 oder 5 Vertreter einigen, oder?
Was den zweiten Teil betrifft, hat die Tatsache meinen Widerspruch geweckt, dass Herr Frickenhaus für den Paritätischen Sachsen arbeitet. Und mich wundert schon, dass er hier für seinen Beitrag genau von denjenigen hoch gelobt wird, die Ulla Schmidt für derartige Aussagen zu Recht heftigst kritisieren würden.

Von kirsti

Hallo Herr Dr. Drebes!
Darf ich noch einmal nachhaken: Es ist extrem gefährlich, bestimmte Gruppen von Behinderten der Alleinvertretung von Verbänden zu überlassen und deren Alleinvertretungsanspruch als „Expertentum“ zu apostrophieren und fest zu zementieren - wie das Beispiel von Frau Maubach zeigt. – Denn das „Expertentum“ von Verbänden wird fragwürdig, wenn es Menschen vertreten soll, hinter denen sie selbst zurückbleiben. Aber Herr Frickenhaus hat das Problem, so wie es ist, besser dargestellt.
LG

Von Gisela Maubach

@ Sven Drebes

Lieber Dr. Drebes,

wenn Sie es als "extrem gefährlich" bezeichnen, "bestimmten Menschen das Expertentum in eigener Sache rundweg abzusprechen", dann machen Sie doch bitte deutlich, welchen konkreten Personenkreis Sie mit diesen "bestimmten Menschen" meinen.
Als gesetzliche Betreuerin meines 30-jährigen Sohnes vertrete ich (!) seine (!) Interessen, um ihm eine Lebensqualität zu ermöglichen, die seinen individuellen Bedürfnissen entspricht und die man nur dann in allen Lebensbereichen kennen kann, wenn man ihn in diesen Lebensbereichen über einen längeren Zeitraum betreut, gepflegt, begleitet und gefördert hat. Ich wehre mich diesbezüglich vehement gegen die Formulierung "Erhalt der bevormundenden Strukturen", wenn ich als Expertin in "eigener" Sache die Vertretung meines Sohnes übernehme, weil er selbst dazu nicht annähernd in der Lage ist.

In diesem Zusammenhang zitiere ich erneut einen Eintrag im Mitteilungsheft der Lebenshilfe-WfbM meines Sohnes im Sommer 2014:

"Hallo Frau Maubach,
ich wollte ihnen kurz eine Rückmeldung über das Verhalten von . . . geben.
Er zeigt sich schnell agressiv u. schlägt ohne Vorwarnung direkt zu. Heute wollte ich ihn bei verschiedenen Situationen abholen, ich ging auf ihn zu, sprach ihn an und er schlug sofort zu. Vor einiger Zeit warnte er vorher durch Geräusche, ignorierte man diese Geräusche, dann schlug er erst. Er hat mich zum Glück nicht erwischt. Wollte ihnen das nur mitteilen.
Lg . . . "

Wie kann der Träger einer derartigen Einrichtung als Verband die Interessen meines Sohnes vertreten?

Nachdem er gegen meinen Willen einer Gruppe für Ältere mit erhöhtem Ruhebedarf zugeordnet wurde, obwohl jeder Laie erkennen kann, dass er einen hohen Bewegungsbedarf hat, habe ich ihn aus der Lebenshilfe-Werkstatt rausgeholt . . . und nun ist er ein glücklicher Mensch :-)

Ich habe meinen Sohn als Expertin in eigener Sache vertreten, weil er selbst dazu nicht in der Lage ist . . . und weil es ansonsten niemand getan hätte!

Von kirsti

Frage an Dr. Sven Drebes:

Ist Ihre folgende zweiteilige Feststellung nicht eine etwas hintergründige Art, Verbänden für alle Menschen in allen Dingen und Angelegenheiten das Sagen und Bestimmen
zu ermöglichen und zu erhalten;d.h. bestimmte Gruppen von behinderten Menschen durch die Hintertür auszuschließen

„Erstens ist es absolut legitim und notwendig, die Beteiligung an Vertragsverhandlungen und Strukturplanung auf "maßgebliche" Verbände zu beschränken,…
…..
Zweitens ist es extrem gefährlich, bestimmten Menschen das Expertentum in eigener Sache rundweg abzusprechen! Das führt direkt zum Erhalt der bevormundenden Strukturen, die wir doch alle beseitigen wollen.“

Von Dirk Hentschel

Entschuldigung Herr Frickenhaus ist gemeint

Von Dirk Hentschel

Auch ich möchte Herrn Frickenbach für diese "Analyse" meinen Dank aussprechen.

Endlich ist mal ausgesprochen worden, welche Verlierer es geben wird wenn "Deutschland" politisch die UN BRK umsetzen "möchte" ..........


Ich kann jedoch leider nicht erkennen, dass sich an dieser Situation etwas ändern wird - zu groß ist das "System" welches sich seine "liebgewonnen Selbstverständlichkeiten" nicht nehmen lassen möchte.

Gern würde ich mich irren!

Dirk Hentschel

Von Sven Drebes

Ein sehr berechtigtes Anliegen, die Beachtung der Situation von Menschen mit "hohem Unterstützungsbedarf" - der Begriff scheint mir nicht wirklich passend, weil er die Gruppe zu unscharf beschreibt - bei der Umsetzung des BTHG zu fordern. Die Umsetzung ist aber gleich doppelt misslungen.

Erstens ist es absolut legitim und notwendig, die Beteiligung an Vertragsverhamdlungen und Strukturplanung auf "maßgebliche" Verbände zu beschränken, sonst müsste man die Veranstaltungen für Sachsen in der Semperoper stattfinden lassen, um alle Interessenvertretungen unter zu kriegen. Statt die Abschaffung der Unterscheidung in "maßgebliche" und "nicht maßgebliche" Vertretungen zu fordern, müssen die vielen Interessen- und Selbstvertretungsverbände und -gruppen besser zusammenarbeiten! DABEI (!) müssen die Interessen aller Betroffenen einbezogen werden, statt dass jedes Vereinchen nur auf seine Klientel schaut. Dazu müssen die "maßgeblichen Vertretungen" über ihren Tellerrand blicken und Vertrauen aufbauen. Die anderen müssen das Vertrauen aufbringen, dass die bestimmten Vertreter auch sie vertreten. Die Länder müssen dazu beitragen, dass dieses Vertrauen entsteht, indem sie nur Verbände bestimmen, die nicht auch Leistungserbringer vertreten.
Zweitens ist es extrem gefährlich, bestimmten Menschen das Expertentum in eigener Sache rundweg abzusprechen! Das führt direkt zum Erhalt der bevormundenden Strukturen, die wir doch alle beseitigen wollen. Der Feststellung folgt nämlich geradewegs die Frage, wer denn noch Experte ist, und wer nicht mehr. Vielmehr muss jeder Mensch dabei unterstützt werden, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten, und wo nötig auch dabei, diese Vorstellungen zu Tage zu fördern. Selbst- und Fremdgefährdung müssen auf eine Weise verhindert / vermieden werden, die den Betroffenen als Mensch mit Würde und gleichen Rechten behandelt.

Von Gisela Maubach

Wow - ich habe gar nicht mehr zu träumen gewagt, dass die Benachteiligung derjenigen Menschen, die sich nicht selbst vertreten können, doch noch mal Thema wird.

Herzlichen Dank für diesen sehr zutreffenden und überaus notwendigen Beitrag!

Menschen, die sich nicht selbst äußern können, werden bisher mit jeder Selbstverständlichkeit von denjenigen Verbänden "vertreten", die gleichzeitig Träger der Sondereinrichtungen sind.

Welche Vertreter können für diese Menschen "Experten in eigener Sache" sein?
Das können hier nur individuelle Vertrauenspersonen sein, da ansonsten (fast) immer auf eine einrichtungszentrierte Leistung zugesteuert wird.

Am 22. November habe ich am "1. LVR-Dialog Inklusion und Menschenrechte" in Köln teilgenommen, bei dem es um die Umsetzung der UN-BRK ging.
Dort hatte ich Gelegenheit, genau dieses Problem vorzutragen, denn es widerspricht halt den Menschenrechten, wenn denjenigen Menschen, die sich behinderungsbedingt nicht selbst mitteilen können, jegliches Selbstbestimmungsrecht verweigert wird, obwohl Vertrauenspersonen deren Bedarfe sehr gut beurteilen können.

Wer die Umsetzung der UN-BRK fordert, darf die "Entsolidarisierung" nicht akzeptieren!

Herzlichen Dank für diesen Beitrag!!!

Von TN

Hallo Herr Frickenhaus,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Das, was von Ihnen geschrieben wird, betrifft auch das Gewählt-Sein in die Rundfunkräte. In Berlin habe ich Herrn Specht, der von der Lebenshilfe benutzt(?), vorgeschickt (?) wird, um im Rundfunkrat von Berlin-Brandenburg (angesiedelt beim Rundfunk Berlin-Brandenburg, RBB) für _alle_ Behinderten das Wort zu erheben und Recht zu verteidigen. Von Herrn Specht, seines Zeichens lernbeeinträchtigt, hat man jedoch noch nie was gehört, noch gelesen, dass er sich auch für Menschen mit anderen Behinderungen, wie hörbeeinträchtigte, mobilitätsbeeinträchtigte Menschen einsetzt.
Über das Puschen Herrn Spechts durch die Lebenshilfe Berlin (die selber Ausgrenzung von Schwerstbehinderten betreibt) als Mitglied im Rundfunkrat Berlin-Brandenburg, siehe http://www.tagesspiegel.de/medien/rbb-aufsichtsgremium-verein-lebenshilfe-fordert-sitz-im-rundfunkrat/20714554.html

Über Ihre Anmerkung zu den 'Expert/innen in eigener Sache' ist es so, dass jede Berufsgruppe behauptet, sie und nur sie seien Expert/innen in eigener Sache. Ein Mantra, mit dem von denjenigen Dritten vorgegaukelt werden kann, sie wüssten nicht Bescheid und man müsse den Dritten den Mund verbieten und, falls das nicht helfen werde, den Dritten Hausverbot erteilen.

Auch durch dieses Mantra und dessen Durchboxen in die Realität gerät die Demokratie und geraten demokratische Prozesse immer mehr auf eine schiefe Ebene, allerdings als Rutsche in ein tiefes Loch.