Die andere Möglichkeit

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

939,9 Millionen Kilometer waren wir alle gemeinsam im vergangenen Jahr auf unserer Runde um die Sonne unterwegs. Während dieser Reise sind auf der Erde 14,5 Millionen Menschen verhungert. Davon überdurchschnittlich viele Behinderte, die aus dem Elend noch nicht einmal fliehen können.

Die Reichsten der Reichen sind unterdessen im Jahr 2017 um 1 Billion Dollar reicher geworden. Das veröffentlichte in den letzten Tagen des alten Jahres der Finanzdienst Bloomberg, der täglich eine Milliardärs-Rangliste ermittelt. Der Vermögenszuwachs der reichsten Milliardäre betrug am zweiten Weihnachtsfeiertag 23 Prozent innerhalb eines Jahres. Wie haben die das gemacht? Woher kommt so viel Geld? 1 Million Millionen (1.000.000.000.000) mehr allein in den Taschen der 500 Reichsten.

Das sind keine Sterntaler, denn die Moneten fallen im Unterschied zu Kometen bekanntlich nicht vom Himmel. Wenn die Reichen immer reicher werden, muss das Geld irgendwo herkommen. Und alle wissen woher, es wird nämlich den Armen und Ärmsten überall in der Welt weggenommen. Auch und besonders aus Deutschland.

Mit den 1 Billion Dollar Jahresverdienst der Reichsten der Reichen hätte kein einziger der 14,5 Millionen Menschen verhungern müssen. Im Gegenteil. Jeder von ihnen hätte täglich 189 Dollar bekommen können. Das wären 69.000 Dollar in diesem einen Jahr für jeden gewesen. Davon hätte sich jeder einzelne der verhungerten Menschen 37 Jahre lang sattessen können. Das ist Kannibalismus.

Mit einer Armutsquote von 15,7 Prozent hat Deutschland einen neuen Höchststand erreicht, berichtete bereits am 2. März der Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin. Erschütternde Zahlen, die bestätigt werden durch das Statistische Bundesamt. Mehr als 330.000 Haushalten in Deutschland war nach einer offiziellen Auskunft der Bundesregierung bereits der Strom abgestellt worden. Eine Katastrophe für Millionen Menschen in den kalten und dunklen Wintermonaten. Deutschland, so wurde festgestellt, ist Europameister im Energiesperren. Den Ärmsten der Armen wird in Deutschland der Hahn abgedreht, während sich die Milliardäre in den Steuerparadiesen sonnen.

"Wer arm ist, bleibt häufig arm", stellte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fest. Besonders betroffen sind Kinder, alte und behinderte Menschen, die Leiharbeiter, die Niedriglohnbeschäftigten, und immer mehr Menschen werden genötigt, sich in prekären Verhältnissen zu verkaufen.

So endete das Jahr 2017.

Die Bundestagswahl sollte den längst überfälligen Kurswechsel vom Sozialkahlschlag zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit bringen. Diese Hoffnung ist jedoch vorerst gescheitert. Die Wahlverlierer der GroKo haben fertig und versuchen nun mit dem alten Stroh an KoKo (Kokolores: südhessisches Wörterbuch - Bd. III, 1977 - als unglaubwürdiges Gerede, Unsinn, törichtes Geschwätz, dummes Zeug, auch als Durcheinander) zu stricken. Eine neue Regierung der sozialen Wende ist dabei nicht in Sicht.

So beginnt das Jahr 2018.

"Konsequenz aus all den 'geklauten Jahren' im Rückblick: 'Im Westen nichts Neues': Kein Fortschritt seit Zusatz zum Grundgesetz 1994: 'Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden'; kein Fortschritt seit der Ratifizierung der UN-BRK 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland … Wie geht es im nächsten Jahr weiter?" fragte die Leserbriefschreiberin "kirsti" am 28.12.2017 in den kobinet-nachrichten zu dem Artikel "Ein geklautes Jahr ist vorbei" von Gerhard Bartz.

Es wird einfach weiter gemacht, kopflos, sinnlos, planlos, aussichtslos. Als sinnfälliges Musterbeispiel steht dafür ein Projekt wie der Stuttgarter Hauptbahnhof. "Oben bleiben" wurde niedergeknüppelt, und die Abrissbagger haben "Stuttgart 21 plus" unwiderruflich unumkehrbar gemacht. Es sollte "der modernste Bahnhof Europas" werden. Im Dezember wurde bekannt: Es wird der teuerste Bahnhof der Welt, und er wird auch bis 2021 nicht fertig. Statt 2 Milliarden wird er am Ende 10 Milliarden kosten, und wann immer dieses große Loch ein Ende haben wird, wird es die dümmste und längste Baustelle der Welt gewesen sein. Man stelle sich vor: Für 10 Milliarden Euro hätte man stattdessen die marode und rückständige Deutsche Bahn nach einem modernen Konzept als barrierefreies Verkehrssystem auf die Schiene stellen können.

Hätte, wäre, wenn … - ist aber nicht. Warum nicht? 1. Deutschland ist ein politisches Deppendorf (pardon Herr Deppendorf, das ist nicht persönlich gemeint). 2. Die Wirtschaft brummt, und die Aktionäre verdienen sich dumm und dämlich daran, dass Sinnlosigkeiten wie Schadstoff-Betrugsmotoren, Flughäfen, auf denen kein Flugzeug startet oder landet, weil sie nicht gebraucht oder niemals fertig werden, Wohnungen als spekulative Luxusimmobilien, die sich Menschen, die dringend Wohnungen brauchen, niemals leisten können, ein marodes und völlig rückständiges Bildungssystem gegenübersteht, in dem junge Menschen nicht ausgebildet, sondern selektiert und ausgesondert werden, und das bei jeder neuen Pisa-Studie im internationalen Ranking sitzen bleibt, obendrauf wird in Deutschland immer noch eine längst anachronistische Klassenmedizin aus der Klamottenkiste vorsintflutlicher Privilegien für Privatpatienten finanziert, mit der die Pharmakonzerne gigantische Milliardenprofite erzielen … Ist doch offenbar gar nicht nötig, dass die Politik in Deutschland zu Verstand kommt. Schließlich wird dieser Quatsch auch immer quätscher, weil er nicht konsequent und endgültig abgewählt wird.

Was passiert inzwischen im Deutschen Bundestag? Zwei Tage vor Nikolaus musste selbst die erzkonservative Zeitung "Die Welt" feststellen: "Abgeordnete langweilen sich im Bundestag". Sie bekommen für ihre Abgeordnetentätigkeit monatlich 10.000 Euro und jammern, sie hätten nichts zu tun. Tatsächlich haben sie es in den drei Monaten nach der Bundestagswahl geschafft, noch keinen einzigen Fachausschuss im Parlament zu konstituieren. Und merkwürdigerweise läuft die Staatsmaschine davon völlig unbeeindruckt weiter. Die Regierung regiert (immer noch weiter), das Parlament segnet so weitreichende Beschlüsse wie die Verlängerung der Kriegseinsätze in Afrika und anderswo ab, und auch die Etablierung der künftig drittstärksten Armee der Welt, der europäischen Militäroperation "Pesco" ging weitgehend geräuschlos über die Bühne.

Nun kommt dabei inzwischen allerdings die ganze kapitalistische Staatstheorie ins Wanken. Wiederum stellte "Die Welt" fest, dass die (nicht gewählten) Fachausschüsse eigentlich "die entsprechenden Ministerien spiegeln" müssten, denn eigentlich müsste das Parlament die Struktur der Bundesregierung bestimmen und nicht umgekehrt. Derzeit jedoch hat die Regierung das Parlament an der Leine.

Auf diesem Weg ist der Bundestag dabei, sich für die nächsten vier Jahre in die Rolle des bestbezahlten Debattierclubs in Deutschland zu verabschieden und die Gesetzgebungsgewalt an die Regierung zu übergeben. Die Regierung entwickelt dann im Einvernehmen mit den finanzstarken Lobbyverbänden der Privatwirtschaft die Gesetzesinitiativen, die der Bundestag anschließend notariell absegnen darf. Was übrig bleibt ist eine Hülle der wirklichen Machtverhältnisse, durch die der Parlamentarismus nur noch notdürftig imitiert wird. In der Konsequenz bedeutet das: Bei Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten können die Wähler in der Regel nur noch entscheiden, wer ihre Rechte mit Füßen tritt. Und irgendwie hat sich das schon immer so angefühlt. Oder etwa nicht?

Erfolgreich aktiv zu werden für die uneingeschränkte Umsetzung von internationalen Menschenrechten wie der UN-Behindertenrechtskonvention und für die inklusive Gesellschaft heißt, statt mit dem Kopf ständig gegen politische Betonwände anzurennen, den Kampf für die Menschenrechte in Deutschland vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wir können weiter wie bisher der Politik und den Parteien mit unseren Forderungen hinterher rennen und uns immer wieder aufs Neue einwickeln lassen. Aber die Erfahrung lehrt uns, dass wir damit nicht erfolgreich sind.

Wenn wir auf die Dauer keine Papiertiger und keine Kuschelmiezen sein wollen, dann müssen wir bereit sein, für unsere Rechte zu kämpfen, für eine andere Gesellschaft, für eine inklusive Gesellschaft. Die sich uns dabei entgegenstellen, geben sich zu erkennen als unsere Behinderer.

Die Zeit des Stillhaltens geht zu Ende. Behinderte, Ausgesonderte und Benachteiligte in dieser Gesellschaft brauchen ihre Kampfplätze nicht lange zu suchen, sie sind überall. Wir finden sie auf den Straßen und auf den Plätzen, in den Werkstätten und den Heimen, vor den Barrieren und den Selektionsrampen der Demütigungsbürokratie.

Wehrt Euch gegen Behördenwillkür und politische Ignoranz.
Steht auf, wenn man Euch erniedrigt.
Widersetzt Euch, wenn Ihr nicht aufstehen könnt.
Empört Euch, wenn man Euch missachtet.

Kämpfen hilft, unsere Gegner erkennbar zu machen. Kämpfen hilft, die eigene Situation besser zu verstehen. Kämpfen zeigt uns Wege auf, wie wir es besser machen können. Kämpfen hilft, die eigenen Interessen unverfälscht formulieren zu können und zu erkennen, wer sich unseren Menschenrechten und unserer Selbstbestimmung entgegenstellt. Kämpfen hilft, denn: "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert." (Albert Einstein)

Lesermeinungen zu “Die andere Möglichkeit” (4)

Von Sven Drebes

Fortsetzung;

Eine andere Sache ist, wie die Einwohner das, was die Parlamentsmehrheit beschließt, bewertet. Wenn die wahlberechtigten Einwohner feststellen, dass das Tun der Parlamentsmehrheit nicht (mehr) in ihrem Interesse ist, können sie bei der nächsten Wahl andere Parteien wählen, letztes Jahr gab es dazu je nach Bindesland bis zu 48 Möglichkeiten. Zudem gibt es - von Protestbriefen über Demonstrationen bis zum Eintritt in oder Gründung von Parteien, Vereinren oder Initiativen zur Interessenvertretung - etliche weitere Möglickeiten, die Politik zu beeinflussen. Zu erwarten, dass das Ergebnis dabei 1:1 „mein Wille geschehe“ sein wird, ist aber im besseren Fall naiv, im schlechtesten so totalitär wie das „Wir sind das Volk!“ der Pegidisten. In eine sehr ähnliche tötalitäre Richtung geht die Diskreditierung der Parlamente als „bestbezahlten Debattierclub“.

Von Sven Drebes

Fortsetzung:

Beispiel „Bürgerliche Parlamente“:
Die Klage, dass die Mehrheit im Parlament Gesetzentwürfe der Regierung nur „notariell beglaubigt“ - also allenfalls leicht ändert, aber nie stoppt, zeugt von wenig Beschäftigung mit der politischen Realität in Deutschland. Die Regierung heißt hier völlig zu Recht "Exekutive", weil sie zu großen Teilen das ausführt, was die Parteien, die sie tragen, wollen. Sie formuliert also aus, was entweder im Koalitionsvertrag oder in späteren Gesprächen vereinbart wurde. Eine zusätzliche Rückkopplung gibt es dadurch, dass die meisten Minister und alle Parlamentarischen Staatssekretäre auch Abgeordnete sind. Drittens werden Gesetzentwürfe, bevor sie ins Parlament kommen, so lange zwischen den (beteiligten) Ministerien verhandelt, bis alle (Minister und / oder Parlamentarische Staassekretäre) damit einverständen sind. Wenn Ministerialbeamte ein, zwei oder auch 20 Sätze "Polit-Lyrik" in Gesetzesform gießen, kann zwar im Detail die eine oder andere Formulierung nicht im Sinne der Erfinder ausfallen, Fehler bzw. Abweichungen, die so groß sind, dass das Gesetz erst im Parlament gestoppt oder komplett neu geschrieben wird, passieren durch die Art der Entstehung von Gesetzen aber nicht. Wenn so was passieren sollte, hätte das gesamte Spitzenpersonal aller Regierungsparteien komplett den Kontakt zu den Fraktionen verloren und müsste geschlossen zurücktreten. Der Rest der Gesetze sind entweder solche, mit denen internationale Abkommen in Kraft gesetzt werden, oder solche, die ältere Gesetze an neuere technische Entwicklungen anpassen.
Die Zuständigkeitsbereiche der Ministerien werden übrigens auch von den Parteien festgelegt, die sich auf eine Regierungskoalition einigen, also auch von der Parlamentsmehrheit.

Fortsetzung folgt...

Von Sven Drebes

Sehr geehrter Herr Reutershahn,

Sie schaffen es leider immer wieder, vollkommen unterstützenswerte Anliegen, bei denen wir uns im Groben sogar einig sind, auf eine Weise mit Ihren politischen Grundüberzeugung zu verquirrlen, dass ich einfach widersprechen muss.

Beispiel Armut: Ohne Zweifel gibt es auch hier arme Menschen, und die Regierungen haben bisher zu wenig getan, sie zu bekämpfen. Die knapp 16% der Bevölkerung, die die Armutsrisiko-Quote erfasst, sind für die Politik aber ein völlig ungeeignetes Maß. Darin sind nämlich sowohl Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Menschen, die geringe Löhne und deshalb geringe Renten bekommen, und alleinerziehende, teilzeitbeschäftigte Frauen als auch Studierende, die später mal Ärzte, Richter oder Manager werden, Menschen, die als Selbstständige früher zwar gut verdient, aber schlecht fürs Alter vorgesorgt haben, oder Beamte im höheren Dienst mit sehr vielen Kindern. „Den Reichen nehmen, um den Armen (Geld) zu geben“ ist also bestenfalls Teil der Lösung, Reichtum zu verhindern oder zu beseitigen, wird sogar gar nichts an der Armutsrisikoquote ändern, mal ganz von der Frage abgesehen, wo „akzeptabler Wohlstand“ aufhört und „nicht akzeptabler Reichtum“ anfängt.

Beispiel Private Krankenversicherung: Da gibt es einige Schieflagen. Sie als „Klassenmedizin“ zu bezeichnen, greift aber deutlich zu kurz, weil sich nicht nur Top-Manager oder höhere Beamte privat versichern müssen, sondern auch Selbsstständige, die knapp an ergänzendem Hartz IV vorbei schrammen, oder verbeamtete Büroboten. Letztere bekommen zwar schneller Arzttermine, zahlen ab einem bestimmten Alter möglicherweise sogar mehr, als sie in der PKV zahlen würden. Und bei Heil- und Hilfsmitteln sind viele Tarife sogar schlechter als die GKV.

Fortsetzung folgt...

Von Wombat

Wer sich in Bayern gegen Behördenterror wehrt, soll ENTMÜNDIGT werden. Da scheut der Bezirk weder Kosten noch Mühen.

Der Aufruf zum Widerstand ist zwar eigentlich richtig, aber in Bayern brandgefährlich.

Immerhin machen aber die Gerichte nicht unbedingt mit, wenn Sachbearbeiter Wehrlose mit aller Behördengewalt entrechten wollen, um sie noch besser drangsalieren zu können.
Trotzdem zeigt die Methode durchaus auf, welch ein extremer Machtmißbrauch von den Behörden ausgeht.