Stillstand ist Rückschritt

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

Eine Regierung, die sich nicht abnutzt, ist eine Tragödie für die Politik, denn das bedeutet politischen Stillstand. In den letzten 20 Jahren war die SPD 16 Jahre in der Regierung, 12 Jahre die CDU/CSU (und davor 16 Jahre Bimbeskanzler Kohl). Was sollen jetzt eigentlich noch weitere 4 Jahre bewirken? Die SPD ist offensichtlich nicht mehr oppositionsfähig. Die Unionsparteien sowieso nicht. Das politische Verfallsdatum für beide ist längst abgelaufen. Die Lebensdauer der immer gleichen politischen Wahlversprechungen ist limitiert. Die Menschen im Land sollen Politik konsumieren. Und zwar so, dass sich nichts wirklich ändert. Im Gegenteil. Alles soll so bleiben, wie es zuvor bereits war. Auch wenn das Leben immer weiter geht, ist Stillstand in der Regierungspolitik. Doch die Herrschaften wollen um (buchstäblich) jeden Preis an der Macht bleiben, mit immer weniger Antworten auf immer mehr und immer drängendere Fragen.

"Aber wir tun doch, was wir können", schallt es aus den Ministerien. Und immer weniger Menschen glauben das, weil sie spüren und immer mehr zu spüren bekommen, dass der Ofen aus ist. Man solle sich gefälligst daran gewöhnen, weil man anscheinend nichts daran ändern kann, dass man als Regierung nichts ändern will. So wird Politik zu einer Müllhalde, auf der das Überfällige landet, weil es nicht angepackt wird. Übrig bleibt ein Standbild. Für eine bewegte Gegenwart und erst recht für die sich rasant bewegenden Zukunftsaufgaben reicht das schon längst nicht mehr. Ein Land mit einer Regierung, die nichts mehr voranbringt, wird ausgebremst von einer Regierung, die jede Zukunft weit hinter sich hat. Bis auch das Land am Ende keine Zukunft mehr hat. Und dann sitzen jetzt auch noch Neo-Nazis im Bundestag. Das zusammen macht den Stillstand zum Rückschritt.

Eine bleierne Zeit lastet auf der Politik im Land. Einen enormen Reformstau schiebt diese Regierung als Bugwelle vor sich her, wie ein Maulwurf, der sich unter die Erde wühlt. Politikverweigerung sorgt für einen Ballast von Millionen fehlenden bezahlbaren barrierefreien Wohnungen, 860.000 Menschen in Deutschland sind obdachlos. 330.000 Menschen können sich die Kosten für den Strom und die Heizung nicht mehr leisten. Millionen Menschen in Deutschland sind bei prekären Arbeitsverhältnissen und Dumpinglöhnen überschuldet. Das Schulsystem ist rückständig, exklusiv  und marode. Eine "Inklusionspause" verhindert die überfällige Entwicklung des kompletten Bildungssystems und soll die Aussonderung durch Sonderschulen erhalten. An elitären Privilegien soll eisern festgehalten werden. Eine anachronistische Klassenmedizin belastet das Gesundheitssystem. Die gesetzliche Rentenversicherung wurde an die Wand gefahren zugunsten von Milliardenprofiten für private Versicherungskonzerne. Hunderttausende Rentnerinnen und Rentner müssen aus den Mülleimern leere Flaschen sammeln, um überhaupt noch über die Runden zu kommen. Die Verkehrsinfrastruktur mitsamt den öffentlichen Verkehrsmitteln ist rückständig. Massenhaft sind Bahnhöfe verwahrlost. Die Deutsche Bahn steuert Milliarden-Investitionen in Prestigegrabmäler, während die Barrierefreiheit der Züge und Haltestellen perspektivlos auf dem Stand des vorigen Jahrhunderts stehengeblieben ist. Eine sogenannte "Mietpreisbremse" lässt die Mietpreise weiter ungebremst explodieren zugunsten von Immobilienspekulanten. Die Antidiskriminierungsgesetze haben die Diskriminierung behinderter Menschen nicht abgeschafft. Die Gleichstellungsgesetze haben behinderte Menschen nicht gleichstellt. Das Bundesteilhabegesetz verhindert die Teilhabe behinderter Menschen. Hunderttausende behinderte Menschen bekommen für ihre Arbeit in den Aussonderungswerkstätten noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Für den notwendigen Ausbau von bedarfsgerechter Assistenz und Pflege fehlt es an den nötigen Investitionen. Es fehlt massenweise an Assistenz- und Pflegepersonal, und die wenigen Kräfte arbeiten für Minilöhne, die ihre Renten nicht sichern und mit denen noch nicht einmal Wohnungen zu Normalmieten bezahlt werden können. Gegenüber behinderten Menschen wächst die Repression und soziale Ignoranz der Behörden. Behinderten wird der Stinkefinger gezeigt. … Und diese Liste ist länger, viel länger. (Siehe: Da wird man ja "irre" - PatientInnen zweiter Klasse, Wohlfahrtsverband fordert offensive Sozialpolitik und Nachbesserungen, Gegen Reihenuntersuchung zum Down-Syndrom.

Und das Schlimmste an alldem ist: Es ändert sich nichts! Die Aufgaben zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention spielen auch nach der Bundestagswahl in Berlin keine Rolle und bleiben weiterhin auf Eis gelegt. Bei den Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition: Fehlanzeige! Bei den Verhandlungen für eine GroKo: Fehlanzeige!

Selbst wenn es um das Lebensrecht behinderter Kinder geht, herrscht in der politischen Oberklasse und den Mainstream-Medien ignorantes Schweigen. Kein Wunder, denn Kinder mit Down-Syndrom werden durch die geplante Vollstreckung von Reihenuntersuchungen bei Schwangeren auf den Weg zur Selektionsrampe geschickt. "Ich will nicht abgetrieben werden, ich will auf der Welt bleiben“, sagte die 18 Jahre alte behinderte Natalie Dedreux (Down-Syndrom), als sie im September in der ARD-Wahlarena Kanzlerin Angela Merkel traf, stellte am 27.01.2018 Der Tagesspiegel gerade in der Woche des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus fest. Dabei dürfen im geltendem Recht nach Paragraf 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) behinderte Kinder bis zum Tag der Geburt abgetrieben werden. Derzeit werden Kinder mit Down-Syndrom und Spina bifida bereits "pränatal diagnostiziert" und werden vorzeitig in Müllsäcken als unwertes Leben entsorgt. Das ist mehr als ein Restreflex eugenischen Denkens.

Stoppt die Exklusion!

Und was bei all dem nicht verschwiegen werden darf: Zugleich werden auf den Schlachtfeldern der weltweiten Kriege Millionen Menschen ermordet und verstümmelt. Daran hatte die GroKo-Regierung in Deutschland einen unrühmlichen Anteil. In der Verantwortung von Angela Merkel und Sigmar Gabriel wurden die Rüstungsexporte um 21 Prozent erhöht. Die Lieferungen in Drittstaaten außerhalb von EU und Nato nahmen sogar um 47 Prozent auf 14,48 Milliarden Euro zu. Die Firma Rheinmetall durfte sogar komplette Waffenschmieden exportieren. Deutsche Bomben, Granaten und Sprengmunition sind ein Riesengeschäft und haben dabei mitgeholfen, Syrien in Schutt und Asche zu legen. Mit Leopard-Panzern aus Deutschland hat das mittelalterliche Regime Saudi-Arabiens in einem barbarischen Krieg die Städte im Jemen verwüstet und ein grauenhaftes Elend unter der Zivilbevölkerung angerichtet. Und mit deutschen Panzern führt der türkische Diktator Erdogan aktuell einen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Menschen in Kurdistan. Die deutsche Regierung hat entgegen aller Lippenbekenntnisse die Schleusen geöffnet für mehr Waffenexporte in die Krisenregionen der Welt. Ein Mordsgeschäft für die deutsche Rüstungsindustrie.

"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", schrieb Paul Celan.

Das nicht zuletzt mit Waffen aus Deutschland angerichtete und fortdauernd befeuerte Massenelend in den weltweiten Krisenregionen wirft ein Licht darauf, wodurch die Menschen aus ihren Heimatländern vertrieben werden, und wer die Fluchtursachen zu verantworten hat.

Als müsste dieser zynische Akt noch überboten werden, wurde in der vergangenen Woche der behinderte und traumatisierte Flüchtling Reza Hosaini mit einem Sammelflug aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Er war als 10-Jähriger nach einer Bombenexplosion auf einem Auge erblindet. Der heute 20-Jährige wurde aus Deutschland abgeschoben, weil er keine Papiere hatte. Zuvor hatte er erleben müssen, wie sich ein Freund in der Gemeinschaftsunterkunft in Abensberg (Bayern) das Leben nahm. Der Flüchtling sprang aus Angst vor seiner Abschiebung aus einem Fenster der Unterkunft im zweiten Stock und starb. Innenministerium: Kein Kommentar. Neben den Bundesländern Bayern waren Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und Thüringen an der aktuellen Abschiebung beteiligt. An den Landesregierungen dieser Bundesländer sind beteiligt: CSU, CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke.

 

Lesermeinungen zu “Stillstand ist Rückschritt” (1)

Von Annika

Danke für Ihre klaren Worte!
Habe nachgelesen, was mit Reza Hosaini passiert ist und dabei die Kälte, Unmenschlichkeit und Mitleidslosigkeit gespürt, die um sich greift.
Eine Auschwitz-Überlebende (Ruth Elias) im Interview mit Claude Lanzmann:
"Keiner wollte uns. Keiner hat uns geholfen."
Es scheint, dass wir ein Volk von Zuschauern sind, die nicht aufmucken und mit dem "Elend" anderer nichts zu tun haben wollen (es unsichtbar machen wollen).