Düsseldorfer Erklärung der Behindertenbeauftragten

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

Norbert Killewald
Norbert Killewald
Bild: omp

Düsseldorf (kobinet) Die Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung von Bund und Ländern haben sich bei ihrem Treffen einstimmig für neue Wege in der Behindertenpolitik und einen entsprechenden Kurswechsel ausgesprochen. Im Zentrum soll die Teilhabe der Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben stehen. In ihrer Düsseldorfer Erklärung fordern sie unter anderem ein Teilhabegeld und die Abkehr von der Einkommens- und Vermögensanrechnung.

Vor zwölf Jahren gab es die große Reform des Behindertenrechts durch das SGB IX mit dem Ziel der Selbstbestimmung behinderter Menschen und der Abkehr vom Fürsorgeprinzip. Seit 2009 gilt auch die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Dennoch würden diese Regelungen immer noch nicht ausreichend umgesetzt, heißt es in der vom nordrhein-westfälischen Landesbehindertenbeauftragten herausgegebenen Presseerklärung. Gestern und heute war der nordrhein-westfälische Landesbehindertenbeauftragte Norbert Killewald Gastgeber des Treffens der Beauftragten in Düsseldorf. "Das geltende Recht ist kein totes Pferd. Das Pferd durfte nur noch nicht an den Start. Es wird endlich Zeit, dass die Kostenträger mitspielen", erklärte Norbert Killewald.

"Die Beauftragten fordern einstimmig, dass Bund und Länder zusammen über die Parteigrenzen hinweg nun endlich das Teilhaberecht umsetzen sollen", erklärte der Behindertenbeauftragt der Bundesregierung Hubert Hüppe. Die Beauftragten fordern dabei vor allem die Beteiligung der Menschen mit Behinderungen bei der Reform der Eingliederungshilfe selbst und sehen dabei das SGB IX als zentrales Leistungsgesetz.

Im folgenden dokumentieren die kobinet-nachrichten die Düsseldorfer Erklärung im Wortlaut:

 

Düsseldorfer Erklärung der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern zum Reformprozess der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung

Derzeit diskutieren wir in Deutschland Neuregelungen der Leistungen für Menschen mit Behinderung. Seit mehr als vier Jahren gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Seit 2001 gilt das SGB IX als Rechtsgrundlage.

Trotzdem müssen wir feststellen, dass die garantierte gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung nur teilweise umgesetzt wird. Mit der Umsetzung der Anforderungen aus Artikel 19 UN-BRK, nach denen Menschen mit Behinderung

  • die gleichen Möglichkeiten in der Gemeinschaft zu leben haben sollen, wie andere Menschen,
  • das Recht haben, in die Gemeinschaft voll einbezogen zu werden und an ihr gleichberechtigt teilzuhaben,
  • das Recht haben, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen und nicht verpflichtet werden können, in besonderen Wohnformen zu leben,
  • den Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten einschließlich der Persönlichen Assistenz haben sollen, der es ihnen ermöglicht, gleichberechtigt am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben und nicht isoliert und ausgesondert zu werden und
  • den Zugang zu Dienstleistungen und Einrichtungen erhalten, die für die Allgemeinheit bestimmt sind und die auch ihre Anforderungen und Bedürfnisse zu berücksichtigen haben,

wurde bisher nur zögerlich begonnen, obwohl sie verbindliches Recht sind.

Im letzten Jahr haben sich Bund und Länder in der Einigung zum Fiskalpakt wie folgt verständigt: "Deshalb werden Bund und Länder unter Einbeziehung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ein neues Bundesleistungsgesetz in der nächsten Legislaturperiode erarbeiten und In-Kraft setzen, das die rechtlichen Vorschriften zur Eingliederungshilfe in der bisherigen Form ablöst."

Der Bundesrat hat inzwischen dazu Eckpunkte beschlossen.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass direkt nach der Bundestagswahl die grundsätzlichen Weichen für die künftige Ausrichtung der Behindertenpolitik in Deutschland gestellt werden. Aus diesem Grunde halten es die Behindertenbeauftragten für notwendig, Stellung zu nehmen.

1. Wir brauchen einen neuen Behinderungsbegriff!

Behinderte Menschen sind nicht behindert – sie werden behindert. Mit dieser einfachen Darstellung wird häufig der Paradigmenwechsel zwischen bisherigem Recht und der UN-Konvention beschrieben. Tatsächlich ist in Deutschland die Defizitorientierung auch rechtlich immer noch verbreitet. Mit der Ratifizierung der UN-Konvention heißt es nun: „Zu den Menschen mit Behinderung zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren ihre volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft behindern können.“ Dieser an den Menschenrechten orientierte Behinderungsbegriff muss in die deutschen Gesetze aufgenommen werden.

2. Teilhabe ist im deutschen Rechtssystem nicht klar genug definiert!

Ebenso wie bei der Diskussion des Begriffs der Behinderung stehen wir bei der Definition "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" vor der Frage, was dies für das deutsche Rechtssystem, insbesondere auch für das Sozialrecht bedeutet. Nur, wenn wir dies einwandfrei beschreiben, lassen sich die Ansprüche des Einzelnen ohne langwierige rechtliche Auseinandersetzungen erfassen und ableiten. Es ist notwendig, dass der Gesetzgeber dies von Anfang an vorgibt und Teilhabeleistungen klar auf den persönlichen Bedarf der Menschen mit Behinderung festlegt.

3. Das Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung muss vorrangig im SGB IX als dritter Teil verankert werden!

Die Menschen mit Behinderung fühlen sich im Sozialamt nicht richtig aufgehoben. Auch ein neues SGB XIII, welches von den Grundsätzen, Prinzipien und Überzeugungen der Sozialhilfe bestimmt wird, würde von den Betroffenen und ihren Familien nicht akzeptiert. Die Beauftragten des Bundes und der Länder sprechen sich für eine Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem System der Sozialhilfe aus und sehen im SGB IX das geeignete Regelwerk, die rechtlichen Grundlagen für Teilhabeleistungen weiter zu entwickeln. Die Beauftragten fordern, den Vorschlag für ein Gesetz zur sozialen Teilhabe des Forums behinderter Juristinnen und Juristen für die Neuregelung der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung als Beratungsgrundlage einzubeziehen.

Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen muss fallen!

4. Kinder in ihrer Vielfalt bedürfen endlich der Gleichbehandlung!

Nicht alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung erhalten die Leistungen zur Förderung der Teilhabe, die sie entsprechend ihres individuellen Bedarfs benötigen. Insbesondere dann, wenn neben Teilhabeleistungen durch Sozialleistungsträger auch noch Leistungen der Erziehungshilfe benötigt werden, kommt es zu Verwerfungen. Der Gesetzgeber muss durch geeignete Maßnahmen gewährleisten, dass künftig alle Kinder und Jugendlichen die ihrem Bedarf entsprechenden Leistungen aus einer Hand erhalten. Dabei sollen die Überlegungen der „Großen Lösung“ einbezogen werden.

5. Ein Teilhabegeld für die Betroffenen entspricht am ehesten den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention!

Die Umsetzung des Teilhabegeldes für Menschen mit Behinderung in einem Bundesleistungsgesetz
kann schnell die genannten Anforderung des Artikels 19 BRK umsetzen und gleichzeitig eine indirekte Entlastung im Sinne der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern erzielen. Die Behindertenbeauftragten fordern daher die Umsetzung eines Teilhabegeldes.

6. Wir brauchen endlich die Zusammenarbeit aller Kostenträger im Sinne der betroffenen
Menschen!

Die dazu im SGB IX enthaltenen Verwaltungs- und Verfahrensvorschriften müssen von allen Trägern von Teilhabeleistungen vollzogen werden. Die Bundesregierung sollte dies in den Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der BRK klarstellen. Die Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung der verschiedenen zuständigen Stellen muss zusammengeführt und vereinheitlicht werden.

7. Nicht das wirtschaftliche Interesse der Träger, sondern der individuelle Bedarf ist entscheidend!

Wir stellen fest, dass Kostenträger nach wirtschaftlichen Interessen ihrer Kassenlage und nicht nach geltendem Recht Entscheidungen treffen. Dies führt häufig zur Nicht- oder Minderleistung. Bund und Länder müssen die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Leistungsträgern effektiver gestalten, damit die Betroffenen unbürokratisch ihre Ansprüche durchsetzen können.

8. Persönliche Budgets müssen für die Betroffenen unbürokratisch durchsetzbar werden!

Die Umsetzung des Persönlichen Budgets – dazu gehört auch das Budget für Arbeit - wird durch die Behörden erschwert. Für viele Menschen mit Behinderung ist aber gerade das Persönliche Budget der Weg zum selbstbestimmten Leben.

9. Wir brauchen endlich eine koordinierte und abgestimmte Beratung aus einer Hand!

Fachkundige Beratung darf nicht erst mit der Leistungsberatung einsetzen, sondern muss von der erstmaligen Wahrnehmung einer Behinderung an beginnen und sich nahtlos bis zur Inklusion in die Gesellschaft fortsetzen.

10. Das Wunsch- und Wahlrecht ist im deutschen Sozialsystem ein Grundpfeiler des Handelns!

Menschen mit Behinderung bleibt es häufig verwehrt. Dies muss im Sinne der in Art. 3 UN-BRK verankerten Freiheit, unabhängig eigene Entscheidungen treffen zu können, verändert werden.

11. Betroffene zu Beteiligten machen!

Die Erarbeitung von Vorlagen und Empfehlungen der Ministerkonferenzen und ihrer Arbeitsgruppen muss transparent und unter Einbeziehung der Menschen mit Behinderung erfolgen. Dazu bedarf es verbindlicher Absprachen.

 

Lesermeinungen zu “Düsseldorfer Erklärung der Behindertenbeauftragten” (1)

Von Karin Kestner

Wunderbar!
Vielen Dank für dieses Zeichen!

Karin Kestner