Wie viel Inklusion darf's denn sein?
Veröffentlicht am von Franz Schmahl

Bild: thalmannverlag!
Rostock (kobinet) Inwieweit exkludieren sich Menschen mit Behinderung eigentlich selbst? Dieser Frage geht das Magazin inklusiv! in seiner gerade erschienenen Ausgabe nach. „Solange behinderte Menschen sich selbst exkludieren, indem sie sich unbewusst nicht zur Gesellschaft zählen, bleiben sie im Ruf nach Integration stecken“, behauptet dort Sonja Kemnitz. Dabei wird sie von Herausgeberin Margit Glasow unterstützt, die in ihrem Leitartikel fordert, dass Menschen mit Behinderung aus ihrem Mauseloch der Selbstbemitleidung herauskommen und versuchen müssen, die ihnen zugefügten Verletzungen zu überwinden. Menschen mit Behinderung seien oft gefangen in ihrer Angst, immer wieder daran gemessen zu werden, welche Leistung sie bringen. Ob sie die Dinge auch kognitiv verstehen. Wie „normal“ sie sind. Aber auch wenn sie immer wieder in eine Schublade geschoben würden mit dem Vermerk „behindert“, sei es umso wichtiger, sich zu öffnen und sich in inklusiven Strukturen selbst weiterzuentwickeln. Das würden sie oft übersehen.
Dass zur Weiterentwicklung wohl auch gehört, dass Menschen mit Behinderung, deren Angehörige und alle diejenigen, die sich für Inklusion stark machen, einig sein und gemeinsam versuchen müssen, die Dinge voranzutreiben, zeigt der Fall „Henri“ in Baden-Württemberg, mit dem das Magazin titelt ("Wie viel Inklusion darf's denn sein?"). Henris Mutter droht den Kampf um die inklusive Beschulung ihres Sohnes Henri am Gymnasium zu verlieren. Der Schwerpunkt zur schulischen Inklusion im Magazin zeigt dabei auf, dass auch viele Betroffene nicht erkennen, wie wichtig es wäre, Kräfte zu bündeln, um gegen eine Lobby mehr Gewicht zu haben. Gute Argumente für diesen Kampf liefert André Zimpel, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Hamburg, der darüber spricht, wie Inklusion von Menschen mit Trisomie 21 gelingen kann.
Die aktuelle Ausgabe beschäftigt sich darüber hinaus mit der Frage, ob ein einheitliches Kennzeichnungssystem barrierefreier touristischer Angebote in ganz Deutschland Sinn macht. Die Initiative „Reisen für Alle“, die vom Deutschen Seminar für Tourismus (DSFT) in Kooperation mit der Natko gestartet wurde und im Juni 2014 enden wird, hat sich zum Ziel gesetzt, die gesamte touristische Servicekette in Deutschland in Hinblick auf ihre Eignung für Menschen mit Behinderungen zu erfassen und verlässliche Informationen für Reisende mit Handicap zu liefern. Das Magazin zeigt auf, warum das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderte Projekt unter Touristikern umstritten ist und einige diesem Projekt skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber stehen.
Von lehmä
Sehr geehrte/liebe Behinderte
nur ganz kurz eine Anmerkung zur Inklusion/Arbeitsfähigkeit/Arbeitsunfähigkeit. Nach allen Erfahrungen - auch Aussagen meines Sohnes, der versucht, an einer Gesamtschule als Lehrer Inklusion zu leben -, "landen" zukünftig sicher mehr als nur 20% der Menschen mit irgendwelchen Handycaps - nicht nur "Geistigbehinderte" in Einrichtungen der WfbM. Wer nicht Hände zum Arbeiten, Beine zum Laufen hat,, die Liste ist endlos - bleibt außen vor. Arbeitsunfähig, Förderstätte .. Ich kann Frau Maubach nur zustimmen. Die Wirklichkeit spielt nicht in kleinen behindertengerechten Exklusivklubs. Schöne Grüße
Von MargitGlasow
Sehr geehrte Frau Maubach, ich denke, wir diskutieren hier auf zwei Ebenen, die wir nicht miteinander vermischen sollten. Zum einen geht es darum, dass Menschen mit Behinderung mitunter nicht bereit sind, sich den Menschen ohne Behinderung gegenüber zu öffnen, die für ein wirkliches gemeinsames Miteinander eintreten. Weil sie eben in diesem "Mauseloch des Selbstmitleids" verharren. Diese Ebene war von mir gemeint. Die von Ihnen angesprochene Ebene ist, so denke ich, anders gelagert. Mir ist bewusst, dass Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen sehr viel Ungerechtigkeit und Diskriminierungen erfahren. Deshalb biete ich Ihnen noch einmal an, dass wir gemeinsam überlegen, wie wir das redaktionell aufarbeiten können.
Viele Grüße
Margit Glasow
www.inklusiv-online.de
Von Gisela Maubach
Sehr geehrte Frau Glasow,
auch wenn ich bereits wiederholt darauf aufmerksam gemacht habe, möchte ich hier nochmal betonen, dass es nicht um meine "spezielle Situation" und meine "Sichtweise" geht.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) hat in ihrem Positionspapier zur "Schnittstelle zwischen Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Tagesförderstätten" vom 20.11.2013 erklärt, dass der Anteil der Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren, die statt einer WfbM eine Tagesförderstätte besuchen, mehr als 20 Prozent (!) beträgt.
Und wenn mehr als 20 Prozent wegen des Ausmaßes ihrer Behinderung keine wirtschaftlich verwertbare Arbeit erbringen können, ist das nicht nur die "spezielle Situation" eines einzelnen Menschen mit schwerster Behinderung.
Meine "Sichtweise", dass man nicht von Inklusion sprechen kann, solange die Eingliederungshilfe dieser Menschen an die Einrichtung gebunden bleibt, sollte auch nicht (nur) als "Sichtweise" einer einzelnen betroffenen Angehörigen betrachtet werden - sondern als tatsächliche Exklusion ohne Selbstbestimmungsrecht für zahlreiche Menschen mit geistiger Schwerstbehinderung, die sich nicht selbst vertreten können.
Hier wird auch keine Inklusion dadurch erreicht, indem die Tagesförderstätten abgeschafft werden und "die 20 Prozent" auch in Werkstätten untergebracht werden (wie in NRW bereits Realität), denn in den Werkstätten sind die Gruppen, in denen die Schwerstbehinderten unter sich betreut werden, eher noch größer als in den Tagesförderstätten.
Hinzu kommt, dass den Betroffenen die Höhe "ihrer Eingliederungshilfe", die an die Werkstätten gezahlt wird, regelmäßig verschwiegen wird und sogar suggeriert wird, dass sie dankbar dafür sein müssten, dass in der Werkstatt "die ganze Belegschaft solidarisch für sie Geld mit erwirtschaftet" (Zitat eines Vorsitzenden des Aufsichtsrats einer Werkstatt).
Dies erklärt vielleicht auch, warum in diesem Bereich kaum jemand den Mut hat, für Selbstbestimmung zu kämpfen.
Wenn Sie nun schreiben "Wir müssen selbst vorangehen und uns verändern", ergibt sich für mich die Frage: Wer ist "wir"? Von wem werden "die 20 Prozent" in "der" Behindertenszene vertreten?
Das "Wir"-Gefühl ist mir völlig fremd, da das Ausgeschlossen-Sein der "20 Prozent" von "der" Behindertenszene als Thema konsequent gemieden wird.
Die Themen "der" Behindertenszene scheinen von der Stärke der jeweiligen Selbstvertreter abzuhängen, so dass naturgemäß die Schwächsten auf der Strecke bleiben. Während die Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit auf zahlreichen Veranstaltungen zum Haupt-Thema geworden ist, spielt die Exklusion Schwerstbehinderter nach wie vor keine Rolle.
Daher wäre es in meinem Sinn, wenn dieser Personenkreis nicht nur anhand "einer speziellen Situation" dargestellt wird. In oben erwähntem Positionspapier der BAGüS ist nämlich außerdem zu lesen, dass Angebote zur beruflichen Teilhabe grundsätzlich vorrangig sind gegenüber Angeboten der Teilhabe am Gemeinschaftsleben. Das bedeutet, dass in NRW schwerstbehinderte Menschen deshalb in den Werkstätten bleiben müssen, weil ihre Eingliederungshilfe offiziell "Teilhabe am Arbeitsleben" heißt. Wer also außerhalb einer WfbM nicht arbeitsfähig ist, muss deshalb in der WfbM bleiben, weil die Leistung an die WfbM vorrangig gegenüber dem Gemeinschaftsleben ist.
Bei der Frage "Wie viel Inklusion darf's denn sein?" müsste meiner Meinung nach eher diese Exklusion thematisiert werden, damit die wirklichen Blockierer sich nicht in's Fäustchen lachen, wenn Menschen mit Behinderung sich erstmal mit ihrem eigenen Selbstmitleid beschäftigen.
Bin gespannt, ob arbeitsunfähige Menschen mit Behinderung in den zukünftigen Inklusionsbeiträgen thematisiert werden.
Beste Grüße
Gisela Maubach
Von Uwe Heineker
Zitat aus Frau Glasows Beitrag:
"Wir müssen selbst vorangehen und uns verändern. Und wir brauchen für mein Dafürhalten mehr Einigkeit in der Behindertenszene."
Genau hier liegt das Problem - und Teufelskreislauf:
erstens gibt es für fast jede Behinderungsart irgendein Verband und zweitens eine sozialwissenschaftlich belegte Hierachie innerhalb von Behinderungsarten.
Dies mal überspitzt formuliert: hier ein Verein für Rechts- und dort einer für Linksamputierte.
Auch folgendes sollte einmal kritisch hinterfragt werden:
Was oder wer ist eigentlich "die" Behindertenszene?
Wie agieren diese?
Wie werden sie (öffentlich) wahrgenommen?
Hierzu fällt mir eine Bemerkung von Ernst Klee Mitte der 1970er Jahre ein: kleine Verbände mit pfiffigen Aktionen erreichen mehr als tradierte Großverbände ...
Von MargitGlasow
Sehr geehrte Frau Maubach, ich möchte Ihnen versichern, dass mit Menschen, die im "Mauselauch des Selbstmitleids" versinken, nicht engagierte Menschen wie Sie gemeint sind. Aber es muss auch die Möglichkeit geben, dass wir als Menschen mit Behinderung unsere Haltung und unser Handeln kritisch hinterfragen und uns konstruktiv damit auseinandersetzen. Nur weil wir eine Behinderung haben, sind wir keine besseren Menschen. Wir müssen selbst vorangehen und uns verändern. Und wir brauchen für mein Dafürhalten mehr Einigkeit in der Behindertenszene.
Ich möchte Ihnen, Frau Maubach, anbieten, dass wir uns einmal persönlich miteinander unterhalten. Gern berichten wir im Magazin inklusiv! auch einmal über Ihre spezielle Situation und Ihre Sichtweise.
Ich freue mich, wenn auch Sie daran Interesse haben.
Beste Grüße aus der Hansestadt Rostock
Margit Glasow
Von Hartmut
Einen Dialog sollte nach meinem Verständnis nicht auf diesem Wege geführt werden, deshalb jetzt nur noch ganz kurz:
- ich stimme insgesamt mit Frau Maubach überein und fühle ich leider in meiner Erfahrung bestätigt, dass vor der Partizipation erst noch die Verständigung und Einigung der Selbsthilfe steht.
- es bringt uns nicht weiter, wenn Hinweise auf bestehendes "Selbstmitleid" immer gleich als Angriff auf das eigene Engagement verstanden wird.
- Ich halte es für richtig, auch einmal darüber zu reden, wie der Beitrag jener Menschen zur Inklusion aussehen sollte, die allgemein als "die Behinderten" bezeichnet werden.
Über weitere Details kann man gern im kleineren Kreis oder im persönlichen Gepräch reden, möglichst aber auch unter Einbeziehung jener, die für Veränderungen zuständig sind.
Von Gisela Maubach
Sehr geehrter Herr Smikac,
verwechseln Sie doch bitte nicht das "Mauseloch" in der Tourismus-Branche mit der gesetzlichen Einrichtungsgebundenheit bei der Tagesstruktur von Menschen mit geistiger Schwerstbehinderung!
Ausgerechnet denjenigen, die mit großem Engagement für eine Abschaffung dieser Einrichtungsgebundenheit eintreten und auf hartnäckige Ignoranz stoßen, vorzuwerfen, sie würden erwarten, dass "nur die Türen geöffnet werden - damit dann die Behinderten einmarschieren können", bestätigt eigentlich nur noch die vorhandene Abgrenzung zu Menschen mit schwersten Behinderungen, die behinderungsbedingt eben nicht in der Lage sind, sich "den Leistungsansprüchen der Gesellschaft stellen" (wie Sie dies hier allgemein einfordern).
Dieses Engagement, dass Sie hier gegen (!) exkludierte Betroffene zeigen, wäre zur Unterstützung der Abschaffung der Einrichtungsgebundenheit wünschenswert.
Außer von Uwe Heineker (herzlichen Dank an ihn!) ist hier bisher aber noch keinerlei Solidarität aus "der" Selbsthilfe erkennbar.
Es ist in höchstem Maße kontraproduktiv, wenn "die" Selbsthilfe nun anfängt, gegeneinander zu kämpfen, anstatt die fehlenden Inklusions-Themen endlich auf die Tagesordnungen zu bringen!
Von Hartmut
Also ich verstehe die Betroffenheit und Empörung über die Aufforderung, aus dem "Mauseloch des Selbstmitleid" herauszukommen, nicht. Inklusion ist nach meinem Verständnis durchaus keine Einbahnstraße. "Inkludiert" zu werden setzt doch voraus, dass auch "die von Behinderung Betroffenen" diesen Weg mitgehen. Inklusion wird nicht funktionieren, jedenfalls sehe ich das so, wenn dazu nur die Türen geöffnet werden - damit dann die Behinderten einmarschieren können ! Inklusion setzt doch wohl neben der Öffnung der Gesellschaft für Inklusion auch die Teilnahme der Betroffenen an diesem Prozess voraus. Ich akzeptiere völlig wenn andere dazu sagen, sie hätten andere Erfahrungen wie ich, als jemand, der nun seit fast 25 Jahren in der Selbsthilfe aktiv sage ich: Nach meiner Erfahrung streben die Selbsthilfeverbände nicht eben ausgeprägt nach diesem gleichberechtigten Einbezogenwerden.
Inklusion wird auch nur funktionieren wenn sich "die einzelnen Behinderten" den Leistungsansprüchen der Gesellschaft stellen. Ich kenne sehr viele aktive, die das bereits jetzt tun. Andererseits suche ich seit zehn Jahren, der bereit wäre, im Projekt "Barrierefreier Tourismus Info" mitzuarbeiten und kann aus diesem Blickwinkel nur sagen: Einige jener Leute, die als Behinderte bezeichnet werden, sollten durchaus über eigene Aktivität nachdenken.
Mein Fazit also: Es gilt zwar nicht allgemein und für alle, aber es gibt durchaus Grund dafür, dass einige auch mal darüber nachdenken wie sie aus dem "Mauseloch des Selbstmitleids" herauskommen.
Von Sabine Fichmann
Dank an Frau Maubach- mir blieb beim Lesen des Artikels die Luft weg.......diese "Selbst-Schuld"- Unterstellung empfinde ich als pure Unverschämtheit und Arroganz!
Von Gisela Maubach
Zitat aus dem Beitrag:
" . . . sei es umso wichtiger, sich zu öffnen und sich in inklusiven Strukturen selbst weiterzuentwickeln. Das würden sie oft übersehen."
Diese "Selbst-Schuld"-Unterstellung ist ein Schlag in's Gesicht derjenigen, deren Eingliederungshilfe für die Tagesstruktur an Einrichtungen gebunden ist, wo sie großen Schwerstbehinderten-Gruppen unter sich betreut werden (müssen).
Obwohl dies nun durch ständige Wiederholungen hinreichend bekannt sein dürfte (incl. der Tatsache, dass wir Eltern gegen Windmühlenflügel kämpfen, um Wahlfreiheit zu erreichen), wird nun auch noch allen Ernstes behauptet, dass "behinderte Menschen sich selbst exkludieren" würden.
Diese Unterstellung ist genauso sinnlos wie die Aufforderung an einen Rollifahrer, dass er aus seiner "Selbstbemitleidung" herauskommen soll, um endlich aus dem Rolli aufzustehen und zu Fuß zu gehen.
So langsam stellt sich wirklich die Frage, wer sich "öffnen" sollte, um zu realisieren, wer sich in welchen inklusiven Strukturen selbst weiterentwickeln darf.