Vom Benachteiligungsverbot zum Nachteilsausgleich
Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul
Berlin (kobinet) Dr. Ilja Seifert vom Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland (ABiD) wird mit dabei sein, wenn behinderte Menschen am 30. Juni um 13.00 Uhr mit einer Kundgebung am Reichstagufer/Ecke Wilhelmstraße in Berlin an den Beschluss des Deutschen Bundestages für die Aufnahme des Benachteiliungsverbotes im Grundgesetz erinnern. Vor 20 Jahren war er Abgeordneter des Deutschen Bundestages und viele Mitglieder des ABiD aktiv, um die Verfassungsänderung zu erreichen.
Anlässlich dieses Jubiläums erinnert sich Ilja Seifert vom ABiD: "Als am 30. Juni 1994 im – seinerzeit noch nicht umgebauten – Berliner Reichstagsgebäude der Artikel 3 des Grundgesetzes um den Satz 'Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden' ergänzt wurde, hatten wir allen Grund zum Feiern. Das taten wir auch ausgiebig. Vor dem Reichstag und in der 'Schwangere Auster' genannten Berliner Kongreßhalle. Viele ABiD-Mitglieder mittenmang. Schließlich krönte dieser Bundestagsbeschluss eine mehrjährige, anstrengende und von etlichen Rückschlägen begleitete Kampagne vieler Behinderten-Initiativen und Verbände."
Weiter berichtet Ilja Seifert: "Es war uns bewußt, daß bis zur tatsächlichen Gleichstellung noch ein weiter Weg vor uns lag. Er ist bis heute noch nicht zu Ende gegangen. Aber damals überschritten wir die Schwelle zwischen der Sorge für Objekte (Bedürftige) zur Selbstbestimmung von Subjekten (Personen). Inzwischen hob die UN-Behindertenrechtskonvention vom Dezember 2006 Behindertenpolitik weltweit auf die Ebene der Menschenrechte. Es geht also nicht mehr um medizinische 'Reparatur', auch nicht mehr um bloße 'Versorgung', sondern es geht jetzt darum, den Anspruch auf volle Teilhabe zu verwirklichen. Dazu brauchen wir den Ausgleich behinderungsbedingter – also individuell nicht beeinflußbarer – Nachteile. Von der Regierung und dem Parlament verlangen wir, dass nun rasch Gesetze verabschiedet werden, das auch uns Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen (und unseren Angehörigen) eine freie Persönlichkeitsentfaltung ermöglicht, indem es unsere volle und wirksame Teilhabe garantiert."
Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland "Für Selbstbestimmung und Würde" (ABiD) fordert daher ein Leistungsgesetz, das Diskriminierung ebenso ächtet und ausschließt wie Stigmatisierung, steuerfinanziert sein muss und Ansprüche nach bundesweit einheitlichen Kriterien begründet und als Nachteilsausgleich angelegt und ergo unabhängig von Einkommen und Vermögen ist.
Um nicht noch etliche Jahre ohne Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörige verstreichen zu lassen, könnte die Bundesregierung nach Ansicht des ABiD im Pflegebereich ebenfalls positive Zeichen setzen. Der Verband fordert daher die unverzügliche Anhebung des Pflegegeldes auf das Sachleistungs-Niveau und das In-Kraft-Setzen des von der Gohde-Kommission schon 2009 erarbeiteten teilhabeorientierten Pflegebegriffs.
"Auch an das Bau- und Verkehrsministerium haben wir konkrete Erwartungen, wie es das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes in nachhaltigen Nachteilsausgleich ummünzen kann: das Verbot von Barrieren im Neubau (auch von Wohnungen), ein langfristig angelegtes Förderprogramm für die Beseitigung bestehender Barrieren (auch in, an und um Denkmäler) von mindestens 1 Mrd. €uro/Jahr", heißt es in einer Presseinformation des ABiD.
"Wir müssen vom grundgesetzlich versprochenen Benachteiligungsverbot zum leistungsrechtlichen Nachteilsausgleich voran kommen. Es geht nicht mehr darum, uns sozialrechtliche Almosen zu 'gewähren', sondern menschenrechtliche Ansprüche zu begründen und wirksam werden zu lassen", so Ilja Seifert vom ABiD.