Wir kämpfen für selbstbestimmtes Radeln

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

Jennifer Sonntag mit Fahrrad
Jennifer Sonntag mit Fahrrad
Bild: Jennifer Sonntag

Fraureuth (kobinet) Als Inklusionsautorin ist Jennifer Sonntag regelmäßig auf der Suche nach Unterstützern, die sich mit ihr für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen engagieren. Frustrierend findet sie es, wenn gerade diese Mitstreiter in ihrer täglichen Inklusionsarbeit immer wieder vor unüberwindlichen Kostenträger-Hürden stehen, schreibt Jennifer Sonntag in einem Beitrag für die kobinet-nachrichten.

Bericht von Jennifer Sonntag

Als Inklusionsautorin bin ich regelmäßig auf der Suche nach Unterstützern, die sich mit mir für die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen engagieren. Frustrierend, wenn gerade diese Mitstreiter in ihrer täglichen Inklusionsarbeit immer wieder vor unüberwindlichen Kostenträger-Hürden stehen. Bei allem Sportsgeist, dieser Hürdenlauf macht keinen Spaß! Mein Respekt gilt allen, die mit Feuereifer bei der Sache bleiben und sich von Rückschlägen nicht abschrecken lassen. Austausch und gegenseitige Ermutigung sind jedoch wichtig und Missstände müssen auf den Tisch. Diese möchte ich „in Augenschein“ nehmen und Menschen zu Wort kommen lassen, die mit ihren Behördenkämpfen oft ziemlich allein gelassen werden.

Ich bleibe sportlich und treffe in meinem Interview auf Dörte Krampitz vom RehaRadCentrum in Fraureuth. Sie weiß, wie elementar Bewegung für Menschen mit Behinderungen sein kann, denn Aktivität an der frischen Luft dient der Stabilisierung, der Kompensation und Mobilisierung und beugt nicht zuletzt Folgeerkrankungen vor. Was nicht behinderten Präventionssportlern in jedem buntbebilderten Gesundheitsratgeber nahegelegt wird, sollte doch auch und insbesondere bereits vorgeschädigten Personen zur Verfügung stehen. Aber gerade denen, die diese Teilhabe oft sogar aus medizinischen Gründen am dringendsten benötigen, wird sie verwehrt. Ich spreche mit Dörte Krampitz über ihre Leidenschaft und eine Kostenträgerpolitik, die nicht selten „Leiden schafft“.

Jennifer Sonntag: Frau Krampitz, vielen Dank dafür, dass Sie eine Gesprächsrunde mit mir drehen. Was bewog Sie und Ihren Mann eigentlich dazu, sich für barrierefreies Radeln zu engagieren?

Dörte Krampitz: Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen befand ich mich beruflich in einem sehr schnell laufenden Hamsterrad, aus dem es keinen Ausgang mehr zu geben schien. Zum anderen hatte ich zu dieser Zeit die Räder unseres holländischen Herstellers gerade auf einer Messe kennengelernt und war von diesen technisch und therapeutisch sehr beeindruckt. Mein Mann und ich haben in Kindheits- und Jugendtagen ein gemeinsames technisches Hobby betrieben - den Kartsport. Uns interessiert also alles, was Räder hat und sich bewegt. Den Beruf des Krankenkassenbetriebswirtes habe ich erlernt, weil es mir ein Bedürfnis ist, Menschen zu helfen und nach Möglichkeiten zu suchen, dass es ihnen besser geht. So kamen berufliche und private Notlage mit technischem Interesse und Helferwillen zusammen. Das passt genau zu einem Reha Rad Centrum.

Jennifer Sonntag: Was muss man sich unter einem Reha-Rad vorstellen und welche Menschen mit welchen Behinderungen können davon profitieren?

Dörte Krampitz: Ein Reha-Rad ist ein Zwei- oder Dreirad, welches speziell an die Einschränkungen eines Menschen heran gebaut wird. Diese Einschränkungen sind so unterschiedlich und vielfältig, dass ich sie nicht alle aufzählen kann und bestimmt noch nicht alle kennengelernt habe. Als Modelle haben wir ein Komfort-Zweirad, Dreiradmodelle in unterschiedlichsten Versionen - mit zwei Rädern hinten, zwei Rädern vorn, einem breiten Sitz mit Rückenlehne und niedriger Sitztiefe, welches auch noch Menschen mit erheblichem Handicap fahren können, Zweirad- und Dreiradtandem, Parallel-Tandem - sogar mit Anhängetandem, bei dem eine Begleitperson mit drei Handicappersonen radeln kann und zum Schluss noch eine Rollstuhl-Radkombination und einen Rollstuhltransporter.

Beispielhaft sind Menschen zu nennen, die aus Altersgründen oder Unsicherheit heraus Probleme beim Auf- und Absteigen haben. Für diese Personen gibt es ein Zweirad, dass so konstruiert ist, dass man es aus dem Sitzen heraus Anfahren und Anhalten kann. Oder ein Parallel-Tandem. Hier können zwei Menschen gemeinsam nebeneinander miteinander radeln, von denen eine Einschränkungen oder beide Einschränkungen haben können. Eine Person hat als Kapitän Lenkung und Bremse in der Hand, die zweite Person radelt gleichberechtigt nebenan mit. Beide können mit unterschiedlicher Kraft und unterschiedlichem Tempo Kraft übertragen. Dieses Konzept bietet sich für Menschen mit Seheinschränkungen, geistigem Handicap, körperlichen Einschränkungen nach Unfällen oder Schlaganfall, Demenz, Autismus und und und an. Absolut positiv und beeindruckend ist, dass wir so unterschiedliche Leute auf das Rad setzen und alle mit dem gleichen positiven Eindruck, strahlenden Gesichtern und Glanz in den Augen wieder kommen. Auch für Menschen, die keinerlei Beinfunktion mehr haben, können wir mit unseren Rollstuhlrädern Bewegung, Mobilität und Wind um die Nase möglich machen.

Jennifer Sonntag: Wann zahlt ein Kostenträger und wann zahlt er nicht?

Dörte Krampitz: Ein Kostenträger ist nach dem SGB zur Zahlung verpflichtet, wenn das therapeutische Radfahren im Rahmen der Krankenbehandlung, also ärztlich verordnet, stattfindet, mit dem Rad eine Behinderung ausgeglichen oder der Verschlechterung einer Behinderung vorgebeugt werden kann. Bei Kindern hat eine Kostenübernahme auch zur Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen zu erfolgen. Weiterhin ist ein Therapierad zu finanzieren, wenn es zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig ist.

Praktisch sieht es so aus, dass, egal mit welchem Krankheitsbild der Antrag gestellt wird, egal, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt, erst einmal abgelehnt wird. Nur wenige Fälle werden nach dem SGB geprüft und im ersten Anlauf genehmigt. Für unsere Kunden bedeutet das in der Regel einen langen (zum Teil über 4 Jahre dauernden) Kampf über Widerspruch bis zum Sozialgericht. Auch dort bedeutet eine gleiche Ausgangssituation kein gleiches Urteil. Der größte Teil der Fälle geht positiv aus, leider mit viel zu viel verlorener Zeit...

Jennifer Sonntag: Welche Auseinandersetzungen mit Kostenträgern verhinderten Teilhabe auf besonders dramatische Weise? Ich weiß ja aus Ihren Erzählungen, dass es häufig Tränen Betroffener gab, diese jahrelangen Wartezeiten und verzweifelte Angehörige schwer mehrfach behinderter Menschen, denen das Rad nicht bewilligt wurde.

Dörte Krampitz: Hier kann ich von so vielen Fällen berichten, dass ein Buch nicht reichen würde - leider. Besonders berührt hat mich eine Familie, mit zwei schwer geistig und körperlich behinderten Kindern, die ein Tandem genehmigt bekamen, das zweite Tandem über zwei Jahre erstreiten mussten. Als wir die beiden Räder nach 5 Jahren erstmalig reparieren und warten wollten, wurde dies wegen Unwirtschaftlichkeit abgelehnt und der nachgereichte Antrag auf Austauschversorgung sofort an das Sozialamt weitergeleitet, obwohl ein Sozialgericht die Zuständigkeit der Krankenkasse schon einmal festgestellt hatte.

Ein zweiter Fall ist eine Frau aus dem Nachbarort, die nach einem Schlaganfall halbseitengelähmt ist, der Ehemann nach einer Insolvenz mit dem Handwerksbetrieb bis letztes Jahr die ganze Woche als Fernfahrer unterwegs war und die zur Erprobung Freudentränen weinte. Seit 2012 läuft das Antrags- und Sozialgerichtsverfahren. Die Krankenkasse empfahl ihr die Benutzung eines Elektrorollstuhls ... und lehnte das Rad ab. Jetzt wurde die Summe endlich (vorerst privat) aufgebracht und sie kann aktiv mobil sein und therapiert gleichzeitig Beine, Arme, schult Koordination, aktiviert Herz-Kreislauf und Stoffwechsel und lebt vor allem psychisch auf.

Ein Junge im Alter meiner großen Tochter mit Muskeldystrophie bekam das Tandem mit dem Verweis auf ein Therapiedreirad abgelehnt. Wir hatten das Dreirad wohlweislich beantragt, weil Muskeldystrophie leider eine fortschreitende Krankheit ist und klar war, er würde irgendwann das Dreirad nicht mehr fahren können. Nach Beantragung des Therapiedreirades wurde auch dieses als nicht notwendig abgelehnt. Gegen beide Entscheidungen legten die Eltern Widerspruch ein. Nun wurde um Geld zu sparen der zweite Widerspruch vom Therapiedreirad vor dem ersten Widerspruch gegen das Tandem bearbeitet - und das Therapiedreirad erstmal genehmigt. (Die Eltern hatten dem Jungen das Tandem nach der Ablehnung sofort selbst finanziert und waren zu dieser Zeit schon tagtäglich unterwegs. Hierbei erfuhren wir, dass Nachbarskinder plötzlich wieder nach dem Jungen an der Haustür klingelten und fragten, ob er mit dem coolen Tandem raus käme. Das Tandem baute also eine Brücke zu schon verlassenen Wegen, weil er kein Fußgänger mehr war. Die Eltern ließen das Verfahren um das Tandem trotz dieser Bewilligung weiterlaufen und enttäuschten die Hoffnung der Krankenkasse auf Erledigung. In dieser Zeit kamen so Tiefschläge wie schriftliche Äußerungen eines Gutachters vom MDK, dass es sich bei dem Tandem schon allein deswegen nicht um ein erforderliches Hilfsmittel handeln kann, weil es den Namen "Fun2Go" - wie Spaß zu zweit hat. Nach über 4 Jahren kam der Tag der Gerichtsverhandlung und das Glück, einen Richter mit Sachverstand und Herz anzutreffen. Das wurde als notwendig erklärt und die Krankenkasse zur Leistung verpflichtet. Wir vermittelten das erste Tandem an eine zweite Familie mit behindertem Kind und es gab nun endlich ein genehmigtes Tandem. Zur regelmäßigen Reha-Behandlung konnte die Familie jedes Jahr feststellen, dass der Junge deutlich langsamer fortschreitende Einschränkungen erleben musste, als die gleichaltrigen mit ähnlicher Behinderung. Sie führen einen Großteil davon auf das regelmäßige Radfahren zurück. Genau zu dieser Zeit, zu der wir dem Jungen das Dreirad hätten wegnehmen müssen, weil er es nicht mehr selbst hätte lenken und bremsen können, kam der "Sieg" vor dem Sozialgericht. Wäre die Familie nicht auf eigene Kosten in Vorleistung gegangen, hätte der Junge 4 aktive und mobile Jahre verloren und wäre heute schon deutlich mehr von seiner Krankheit beeinträchtigt.

Das sind Geschichten, die uns begleiten, nicht loslassen und immer wieder neu antreiben, die Menschen zu unterstützen.

Jennifer Sonntag: Was wünschen Sie sich zukünftig im Namen Ihrer Reha-Radler von den Kostenträgern?

Dörte Krampitz: Ich wünsche mir gesetzeskonformes Handeln, Ehrlichkeit gegenüber den Antragstellern, sachliche Prüfungen, unbürokratische Handlungen, Sachkompetenz, Suchen nach Möglichkeiten für etwas und nicht Suchen nach der Chance, es ablehnen zu können, eine wirtschaftliche Prüfung vom Nutzen dieser Räder, und die Verpflichtung, dass jeder Mitarbeiter, der mit einem Genehmigungs- oder Ablehnungsstempel arbeiten darf, bevor er dies tut, mindestens ein soziales Jahr aktiv mit Menschen mit Behinderung verbringt.

Jennifer Sonntag: Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und wünsche uns allen eine gute Fahrt für die weitere Inklusionsarbeit.