Inklusion trifft Depression
Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul
Bericht von Jennifer Sonntag
Leipzig (kobinet) Es kam vor, dass mir hin und wieder ein Mensch in einer schweren depressiven Episode sagte: "Ich würde lieber ein körperliches Handicap in Kauf nehmen oder freiwillig einen Sinn abgeben, als diesen Zustand zu erleben“. Auch wenn diese Gedanken manchem vollkommen fremd sind, in wirklich schlimmen depressiven Phasen kommen sie gar nicht so selten vor, ich verurteile sie nicht und sie gehen bei entsprechender psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung glücklicherweise auch wieder vorbei. Was aber, wenn ein Mensch tatsächlich körperlich- oder sinnesbehindert ist und zusätzlich aufgrund seines Handicaps (oder aus anderen Gründen) eine Depression erleidet?
Dass der Bedarf an einer helfenden Hand bei diesem "Doppel Whopper" besonders groß sein muss, wird jeder spontan nachvollziehen können. Leider ist die Versorgung von Menschen mit Behinderungen in psychischen oder psychiatrischen Notlagen manchmal doppelt so kompliziert, weil sie in den gängigen Therapiekonzepten der zuständigen Einrichtungen nicht vorgesehen sind.
Ich möchte den folgenden Beitrag in meiner Funktion als Inklusionsbotschafterin auf den Weg schicken, um auf mangelnde Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen in therapeutischen Einrichtungen aufmerksam zu machen. Das Bundesteilhabegesetz ist eine wichtige Grundlage zur Gewährleistung der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Oft sind es jedoch nicht die Barrieren in den Gebäuden, sondern die Barrieren in den Köpfen des Klinikpersonals, welche die Umsetzung dieses Menschenrechts verhindern. Ich bedanke mich bei ÄrztInnen, TherapeutInnen und Pflegenden, die sich bereits inklusiven Therapieansätzen öffnen und ihre Berührungsängste überwinden. Alles beginnt mit Begegnung und Kommunikation.
Ich selbst musste als Sozialpädagogin die Erfahrung machen, dass insbesondere Tageskliniken und psychiatrische Krankenhäuser KlientInnen mit schweren Depressionen aufgrund ihrer Blindheit als PatientInnen ablehnten, da diese Häuser therapeutisch nur für „sehende“ Depressionen ausgelegt waren. Die Therapieprogramme waren überwiegend visuell konzipiert. Weniger Probleme traten bei verwertbarem Sehrest auf, wenn davon auszugehen war, dass sich die Betroffenen selbständig optisch zu den einzelnen Therapieorten und mit ihrem Restsehvermögen innerhalb der Aufgabenstellungen orientieren konnten. Allerdings besteht hier immer auch die Gefahr der Augenüberlastung.
Natürlich möchte ich auch Gesicht für Menschen mit anderen Behinderungsformen zeigen, kenne mich aber aufgrund meiner eigenen Blindheit und meines Tätigkeitsfelds im Blinden- und Sehbehindertenbereich in dieser Problematik besonders gut aus. Es ist mir wichtig, dass andere Betroffene mit ihren jeweiligen Kompetenzen ebenso zu Wort kommen und sich sichtbar machen, da sie Missstände aus ihrem Blickwinkel authentischer aufzeigen können. Die von mir dokumentierten blindheitsbedingten Ablehnungen betreffen insgesamt fünf Einrichtungen verschiedener Träger. Dieses noch sehr stiefmütterlich behandelte Thema benötigt dringend verantwortliche Anlaufstellen und konkrete AnsprechpartnerInnen, denn eine Ablehnung in einer solchen Notlage kann tragische Folgen haben.
Ich möchte durch meine Aufklärungsarbeit für Betroffene einen weniger steinigen Weg hin zu therapeutischer Versorgung innerhalb der dafür vorgesehenen Einrichtungen ermöglichen, ohne dass durch Zurückweisung eine zusätzliche Verstärkung der vorliegenden Depression entsteht. Der Therapeutenverband kann laut eigener Aussage keinen Einfluss auf die einzelnen Häuser und deren Entscheidungen im Bezug auf Barrierefreiheit nehmen und auch nicht auf die Inklusionsbereitschaft der dort wirkenden AkteurInnen. Man verwies mich vom Therapeutenverband aus an die jeweiligen Gesundheits- oder Sozialministerien und empfahl die Mitwirkung im Patientenbeirat. Für Betroffene an der Basis, die jetzt und hier schnelle Hilfe brauchen, sind diese politischen Hürden oft zu hoch und sie benötigen alle Kraft zum „über“leben. Auch für die Angehörigen können diese Umwege aufreibend sein.
Ich bin dankbar für die Mitwirkung von AktivistInnen, die eine Möglichkeit sehen, die Themen „Teilhabe, Inklusion und Barrierefreiheit“ direkter an Tageskliniken und psychiatrische Krankenhäuser heranzutragen. Was können wir noch tun, um für Menschen mit verschiedenen Behinderungen Therapieangebote zu etablieren und Berührungsängste abzubauen? Ich wünsche mir inklusive Konzepte und unkompliziertere Zugänge auch für Menschen mit Behinderungen, da das Verwehren psychiatrischer Versorgung bei den Betroffenen im schlimmsten Fall einen Suizid als letzte Lösung begünstigen kann. Auch ein Mensch mit Behinderung kann in eine Depression geraten und braucht kompetente AnsprechpartnerInnen in den entsprechenden Kliniken und Krankenhäusern, wenn es um die Behandlung seiner Depression geht.
Lange habe ich an einem Leitfaden getüftelt, einer Art Zugangshilfe für Betroffene. Nach unzähligen Telefonaten und E-Mails mit zahlreichen Zuständigkeiten, die für jenes spezifische Belang doch alle nicht so ganz zuständig waren, kam ich zu folgender Zusammenstellung: Wenn Sie selbst aufgrund einer Behinderung zu Unrecht von einem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung abgelehnt oder therapeutisch nicht angemessen versorgt wurden, richten Sie Ihre Beschwerden zunächst direkt an die jeweilige Klinikleitung oder Beschwerdestelle der Klinik. Schildern Sie die Umstände höflich aber bestimmt und versuchen Sie, eine Klärung oder Änderung zu erwirken. Dies gilt auch, wenn Sie eine Beschwerde über Arbeits- und Behandlungsabläufe oder über hygienische Defizite vorbringen möchten. Sie können sich jedoch auch unmittelbar an die örtlichen Behindertenbeauftragten, an die Antidiskriminierungsstelle, die zuständige Aufsichtsbehörde, die unabhängige Patientenberatung, den medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) oder wie oben erwähnt, mit entsprechender Unterstützung das jeweilige Landesministerium für Gesundheit bzw. Soziales wenden.
Wie in meinem Beitrag „Da sausen einem die Ohren - Auf der Suche nach barrierefreien Klinikstandards“ bereits beschrieben, gibt es durchaus positive Beispiele für die Teilhabe an therapeutischer Versorgung, auch in den Schwerpunktbereichen „Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik“. Da dies leider noch keine Selbstverständlichkeit ist, empfehle ich die folgende Ergänzung für tagesklinische und generell psychiatrische Kompetenzzentren im Portfolio: "Unsere Einrichtung ist auch für Menschen mit Behinderungen gerne Ansprechpartner und barrierefrei zu erreichen!"
Hinweisen möchte ich auf die Lobby-Arbeit von Uwe Hauck, Autor des Buches „Depression abzugeben“ und sehr engagiert für die Belange von Menschen mit Depressionen. Er ist selbst von einer Depression ohne zusätzliche Behinderung betroffen und will seinen LeserInnen die Angst vor psychiatrischen Einrichtungen nehmen. Ich will meinen LeserInnen die Angst nehmen, in diese Einrichtungen aufgrund einer zusätzlichen Behinderung gar nicht erst aufgenommen zu werden. Am Ende kann ich Ratsuchenden und Engagierten nun noch zwei konkrete Kontakte mit auf den Weg geben, mit deren Unterstützung sich hoffentlich das Thema „Inklusion mit Depression“ weiter vorantreiben lässt:
Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Semmelweisstraße 10
D-04103 Leipzig
Tel.: 0341/97 24 493
Fax: 0341/97 24 599
E-Mail: [email protected]
Homepage:www.deutsche-depressionshilfe.de
Deutsche DepressionsLiga e.V.
Postfach 1151
71405 Schwaikheim
Tel.: 07144 / 7 04 89 50
E-Mail: [email protected]
Homepage: www.depressionsliga.de
Links zu weiteren Beiträgen der Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag
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