"Wir haben schwere Schuld auf uns geladen"

Veröffentlicht am von Ottmar Miles-Paul

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Düsseldorf (kobinet) "Wir haben schwere Schuld auf uns geladen", so titelt das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales eine Presseinformation zu einer Veranstaltung, bei der das Land Nordrhein-Westfalen und die Kirchen das Leid von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen in den Nachkriegsjahrzehnten gewürdigt haben. Tausende Kinder und Jugendliche mussten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie wie auch in Kinderheimen Unrecht und schweres Leid wie Gewalt und sexuellen Missbrauch erleben.

"Um dieses anzuerkennen und die Betroffenen um Verzeihung zu bitten, haben Landesregierung und Landtag unter dem Titel 'Zuhören – Anerkennen – Nicht vergessen!' zu einer gemeinsamen Veranstaltung eingeladen. Daran haben auch Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche teilgenommen, die Träger vieler dieser Einrichtungen sind", heißt es in der Presseinformation des Ministeriums. Der Präsident des Landtags, André Kuper, wandte sich direkt an die Betroffenen und sagte zur Eröffnung: "Sie haben Leid und Unrecht erfahren: sei es durch körperliche oder seelische Misshandlung. Was mich beschämt und schmerzt, ist die Tatsache, dass der Staat Sie nicht ausreichend beschützen konnte. Das darf nie wieder vorkommen.“ Kuper betonte, dass nach Jahrzehnten des Schweigens und Verleugnens dieses Thema endlich dorthin transportiert werde, wo es hingehöre: "in die Mitte unserer Gesellschaft. Und dafür gibt es keinen geeigneteren Ort als unser Landesparlament, um miteinander auf Augenhöhe sprechen zu können."

In einer Gesprächsrunde unter anderem mit dem Sozialminister und den Kirchenvertretern schilderten Betroffene ihre Erfahrungen und ihre Erwartungen an die Politik. So zum Beispiel Thomas Frauendienst, der als Kind in einer Einrichtung der Behindertenhilfe gelebt hatte: "Was ich als Kind erleben musste, war das Grauen persönlich. Sie haben mir alles angetan, was man einem Menschen an Leid antun kann. Nur so kann ich mir erklären, dass ich mit viereinhalb Jahren nur drei Kilo wog, ausgehungert und ausgetrocknet war und nur knapp dem Tod entkam. Der Kinderarzt, der mich nach meiner Entlassung begutachtete, gab mir damals noch fünf Tage zu leben. Dass ich diese Qualen überlebte, grenzt an ein Wunder. Die heutige Veranstaltung kann nur der Auftakt sein und darf auf keinem Fall einen Endpunkt markieren. Ich wünsche mir vom Land und den Kirchen, dass sie sich weiter für uns Betroffene einsetzen.“

Für die Landesregierung sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann an die Adresse der Betroffenen: "Die Dinge, die Sie erlebt haben, sind nicht vereinbar mit unserem christlichen Menschenbild. Wir haben als Land und als Gesellschaft schwere Schuld auf uns geladen. Wir haben den Schwächsten in unserer Gesellschaft den nötigen Schutz und ein Leben in Würde versagt. Ich weiß, dass es dafür keine Entschuldigung geben kann. Aber für das Land Nordrhein-Westfalen sage ich aus tiefstem Herzen: Es tut mir unendlich leid. So etwas darf nie wieder passieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir heute in den Einrichtungen viele gut ausgebildete Beschäftigte mit Zivilcourage haben, die das verhindern würden. Und ich möchte mich bei den Betroffenen bedanken. Mit ihrer Beharrlichkeit haben sie dazu beigetragen, dass es zur Gründung der Stiftung 'Anerkennung und Hilfe‘ gekommen ist und letztlich auch zu der heutigen Veranstaltung.“

Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln betonte: "So wie diejenigen, die schlimme Dinge erfahren haben, diese niemals vergessen können, so dürfen wir als Kirche und als Gesellschaft niemals vergessen, was geschehen ist und wie es geschehen konnte. Gleichzeitig mit dem unverstellten Blick in die jüngere Vergangenheit, gilt es auf Zukunft hin alles dafür zu tun, dass das 'Nicht vergessen' konsequent einhergeht mit einem glasklaren 'Nie wieder!'“

Thomas Oelkers, Vorstand des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe erklärte: "Auch in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie haben junge Menschen Unrecht und Gewalt erlitten. Im Namen der evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen und im Namen der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe bitten wir die Betroffenen um Verzeihung. Im Bewusstsein unserer historischen Verantwortung setzen wir alles daran, dass heute und in Zukunft Erziehung und Betreuung ohne Zwang und Gewalt im Geist echter Nächstenliebe ausgeübt werden."

Heike Gebhard, Vorsitzende des Landtagsausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales sagte: "In großer Einigkeit hat sich der Ausschuss dem schreienden Unrecht angenommen, dass die Menschen aus Heimen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie von den Mitteln des Fonds 'Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschlands sowie der DDR' ausgeschlossen waren. Von Juni 2014 an beriet der Ausschuss mit Vertretern der Kirchen und der Einrichtungen in neun Sitzungen, wie den Betroffenen Anerkennung, ein wenig mehr Lebensqualität und ein Stück weit Würde gegeben werden kann. Er führte eine einstimmige Beschlussfassung im Plenum herbei und ließ nicht eher locker, als bis sich Länder, Kirchen und der Bund zu einem gemeinsamen Fonds verständigten. Wir freuen uns sehr, dass wir heute das Leid aller Betroffenen würdigen können. Nun gilt es dafür zu sorgen, dass die bereitstehenden Mittel der Stiftung 'Anerkennung und Hilfe‘ auch bei den Betroffenen ankommen.“

An der Veranstaltung nahm auch die Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderung sowie für Patientinnen und Patienten, Claudia Middendorf, teil. Sie betonte: "Die Schilderungen der Betroffenen über das Geschehene machen einen sprach- und fassungslos. Darum ist es besonders wichtig, dass diese Menschen und ihr Schicksal heute gesehen und gehört werden.“

Hintergrund

Die Anerkennung von Leid und Unrecht in Einrichtungen der Psychiatrie und Behindertenhilfe ist ein wesentlicher Auftrag der unter Mitwirkung des Landes Nordrhein-Westfalen zum 1.1.2017 gegründeten Bundesstiftung "Anerkennung und Hilfe“. Diese richtet sich an Menschen, die als Kinder und Jugendliche in der Zeit vom 23.5.1949 bis zum 31.12.1975 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 in der DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden.

Die Stiftung "Anerkennung und Hilfe“ wurde von der Bundesregierung, allen Ländern und der evangelischen und katholischen Kirche errichtet. Aufgaben der Stiftung sind die öffentliche Anerkennung, die Anerkennung durch wissenschaftliche Aufarbeitung der Leids- und Unrechtserfahrungen, die individuelle Anerkennung und Unterstützung durch finanzielle Hilfe.

In Nordrhein-Westfalen haben bislang rund 2.000 Betroffene eine finanzielle Anerkennung für das ihnen widerfahrene Leid und Unrecht erhalten. Gezahlt werden eine einmalige pauschale Geldleistung von 9.000 Euro sowie eine einmalige Rentenersatzleistung in Höhe von 3.000 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeit von bis zu zwei Jahren bzw. in Höhe von 5.000 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeit von mehr als zwei Jahren.

Anträge können noch bis zum 31. Dezember 2020 gestellt werden bei den Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung in Köln und Münster. Weitergehende Informationen gibt's auf der Internetseite der Stiftung: www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de

Für ehemalige Heimkinder hatten Bund, westdeutsche Bundesländer und Kirchen bereits zum 1.1.2012 den Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ eingerichtet, der zum 31.12.2018 seine Arbeit beendet hat. Für die neuen Bundesländer hat es den Fonds "Heimerziehung in der DDR“ gegeben.

Lesermeinungen zu “"Wir haben schwere Schuld auf uns geladen"” (4)

Von kirsti

Auch hier greift das Interview, das der kobinet- Redakteur Herr Ottmar Miles-Paul bereits im Jahr 2016 mit Frau Dr.jur. Sabine Wendt führte:
https://www.teilhabegesetz.org/pages/posts/in-werkstaetten-bleibt-im-wesentlichen-alles-beim-alten636.php

Von ZORRO

@ Dagmar
„werden keineswegs angemessen sanktioniert.“

Ob die verhängte Geldstrafe von „nur 2.400 Euro“ nun angemessen ist oder nicht, lässt sich auf Basis des verlinkten Beitrags in Kobinet vom 7. Juni 2019 nicht mal ansatzweise objektiv beurteilen: Grundlage bzw. das „Maß aller Dinge“ ist m.W. die ZAHL der verhängten Tagessätze, aus denen sich dann die Geldstrafe errechnet. Das muss im Strafurteil angegeben werden. Genau diese maßgebliche Zahl fehlt aber unverständlicherweise im „Bericht“. Ferner fehlt das Aktenzeichen des Strafurteils, um das (leider wohl unveröffentlichte) Urteil ggf. beim Amtsgericht Leverkusen gezielt anfordern und die nähere Begründung für das verhängte Strafmaß nachlesen zu können. Sollte diese zu Recht gekündigte und nun Vorbestrafte etwa arbeitslos oder nur geringfügig beschäftigt sein, ergäbe sich bei identischer Zahl der Tagessätze nach § 40 Strafgesetzbuch natürlich eine ganz andere Höhe der Geldstrafe als vergleichsweise bei einem gut dotiertem Vollzeitjob.

Wikipedia: Unter anderm im deutschen Strafrecht werden Geldstrafen nach Tagessätzen berechnet und verhängt. Ziel ist es, Täter/innen mit unterschiedlichem Einkommen verhältnismäßig gleich hart zu bestrafen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tagessatz#Tagess%C3%A4tze_im_Strafrecht

Von Annika

Ich möchte mich gerne anschließen und auch erwähnen, dass dringend und unbürokratisch mehr finanzielle Mittel für die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und behinderten Menschen in Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden müssen insbesondere für mehr und geeignetes Personal, sonst kommt es immer wieder zu den gleichen Problemen. So kann man z.B. feststellen, dass Menschen in Heimen mehr Medikamente erhalten! Sogenannte Verhaltensbesonderheiten können nicht mehr personell betreut werden und es muss in die Medikamentenkiste gegriffen werden. Dies ist nur ein Beispiel- wenn eine wirkliche Verbesserung ernsthaft angestrebt wird reichen warme Worte nicht!

Von Dagmar B

"Wir haben als Land und als Gesellschaft schwere Schuld auf uns geladen. Wir haben den Schwächsten in unserer Gesellschaft den nötigen Schutz und ein Leben in Würde versagt."


Durch die BRK gibt es ja nun ein Instrument , angemessene Lebensumstände für behinderte Menschen herbei zu führen.
Wer die Schuld in der Vergangenheit nicht leugnet , sollte in der Reflexion geeignete Maßnahmen für die Gegenwart und die Zukunft überdenken. Misshandlungen von behinderten Menschen sind in Deutschland an der Tagesordnung und werden keineswegs angemessen sanktioniert.
Siehe :
https://kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/40359/Nur-2400-Euro-Strafe-f%C3%BCr-Schikane-in-Behindertenwerkstatt.htm/?search=2400%20euro%20strafe