Morgens um 7 scheint die Welt noch in Ordnung
Veröffentlicht am von Harald Reutershahn
In die frühdunstig trübe Benommenheit des erwachenden Schläfers kleckst der Wachruf des frischen Tages ein wollweich warmes Licht, das noch farblos durch die blinzelnden Wimpern schmeichelt. Nur ganz allmählich bilden sich im feinen Streu des Begreifens zunächst noch nebulös erkennbare Eindrücke ab, die sich sodann rasch in vertraute Formen verfügen lassen.
7:00 Uhr. Wie an jedem Morgen für mich die Zeit das Radio einzuschalten und mit der Hilfe meines Assistenten aufzustehen. Während mich mein Assistent aus der nächtlichen Horizontalen in die tägliche Vertikale auf die Bettkante setzt und sich dabei wie an jedem Morgen mein Wörterbuch in die alphabetische Ordnung sortiert, höre ich dem "SWR2 Tagesgespräch" zu, bei dem Marion Theis den CDU-Politiker Elmar Brok interviewt, der mit seiner gewohnt brummigen Stimme und in morgenmuffeliger Stimmung die geplanten Flüchtlingsabkommen der EU mit Afrika verteidigt.
Der 70-Jährige spricht als dienstältestes Mitglied des Europäischen Parlaments zu mir durch den Radiolautsprecher davon, dass die Probleme Afrikas nicht in Europa gelöst werden könnten. Er wolle verhindern, dass Menschen auf der Flucht sterben, zum Beispiel in der Sahara. Man könne das millionenfache Flüchtlingselend nicht stoppen ohne die Fluchthelfer wirksam zu bekämpfen. Interessant ist, worüber Brok nicht spricht. Er spricht nämlich nicht über die Ursachen der Not und des Elends der Menschen in Afrika, die durch das gewissenlose Geschäft unerbittlicher Ausplünderung seitens der europäischen Finanz- und Wirtschaftsmonopole betrieben wird.
So beginnt der Montagmorgen, und nach 7:00 Uhr ist die Welt wieder nicht mehr in Ordnung.
Noch vor dem Frühstück lese ich, dass 104 Nichtregierungsorganisationen in einer gemeinsamen Erklärung, darunter Handicap International, die Europäische Union auffordern, den aktuellen Vorschlag der EU-Kommission zur Migrationsabwehr zu stoppen, denn dieser schreibe in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten einen Ansatz fest, der darauf abziele, Menschen abzuschrecken und zurückzuweisen. Vor wenigen Tagen hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Europäische Investitionsbank in den kommenden fünf Jahren zusätzlich sechs Milliarden Euro ausgeben will, um Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern. Das Geld soll vor allem nach Jordanien, Libanon, Ägypten und in die Maghreb-Staaten gehen. Klartext: Das millionenfache Massenelend soll in nordafrikanischen Internierungslagern von der Mittelmeerküste ferngehalten werden.
Die EU-Kommission droht damit, Handelsbeziehungen, Entwicklungshilfegelder und andere Finanzmittel dafür einzusetzen, dass sogenannte Drittländer Flüchtlinge daran hindern, Europa zu erreichen. Die Blaupause für diesen Plan ist das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, durch das Tausende Menschen unter entwürdigenden und menschenverachtenden Bedingungen in Griechenland festsitzen. Kinder und Behinderte sind besonders hart betroffen: Viele Hundert unbegleitete Minderjährige werden in haftähnlichen Einrichtungen festgehalten oder müssen in Polizeizellen schlafen.
Der Kommissionsvorschlag ignoriert zudem alle Belege dafür, dass Abschreckung Migration nicht stoppt, sondern nur verlagert. Die EU-Migrationspolitik wird das Geschäftsmodell der Schleuser nicht zerschlagen, aber das Leid schutzsuchender Menschen vergrößern, die gezwungen werden, noch gefährlichere Routen nach Europa zu nehmen.
Die Nichtregierungsorganisationen fordern von den politischen Verantwortlichen der Europäischen Union, den Vorschlag der Kommission abzulehnen. Stattdessen sollten die EU-Mitgliedsstaaten eine nachhaltige und langfristig angelegte Strategie entwickeln, wie sich Migration nach Europa gestalten lässt. "Die EU, ein Projekt, das auf den Trümmern eines verheerenden Krieges entstand, schickt sich an, ein dunkles Kapitel in ihrer Geschichte aufzuschlagen", warnen die Organisationen in ihrer Erklärung.
Die schwarz-rote Bundesregierung droht mit einem nächsten biopolitischen Tabubruch ein weiteres dunkles Kapitel aufzuschlagen: Behinderte Menschen sollen künftig als Versuchskaninchen für klinische Prüfungen von Arzneimitteln verfügbar gemacht werden. Der. Bundestag soll schon Anfang Juli im Schnellverfahren über eine entsprechende "Reform" des Arzneimittelgesetzes entscheiden.
"Vorstöße, fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Menschen rechtlich zu ermöglichen, gab es immer mal wieder. Größtenteils scheiterten sie, vor allem an öffentlichen, anhaltenden Protesten – das gilt insbesondere für die sog. Bioethik-Konvention des Europarates, der Deutschland bis heute nicht beigetreten ist. Damals, in den 1990er Jahren, hatten rund zwei Millionen Menschen und ungezählte Verbände deutlich gemacht: Medizinische Experimente mit nichteinwilligungsfähigen Menschen sind kategorisch abzulehnen, Menschen dürfen nicht für die Interessen der Pharmakonzerne instrumentalisiert werden. Die massenhaften Protestunterschriften zeitigten jahrelang Wirkung bei der Politik", schreibt dazu das BioSkop-Forum. Unser Widerstand gegen den Plan, per Änderung des Arzneimittelgesetzes behinderte Menschen für "gruppennützige" Erprobungen neuer pharmazeutischer Wirkstoffe zu rekrutieren ist dringend nötig.
Beim Erwachen entsteht Bewusstsein. Und im Bewusstsein entsteht die Erkenntnis politischer Zusammenhänge, denn die bestehenden Verhältnisse lassen sich nicht abtrennen in einen politisch luftleeren Raum. Solange Millionen Menschen keine auskömmliche Grundsicherung bekommen und Behinderte in Heime gesteckt werden oder in Aussonderungswerkstätten noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, solange unsere Angehörigen benachteiligt werden, für unsere Assistenten keine Tariflöhne refinanziert werden kann von Teilhabe nicht die Rede sein. Wenn wir Behinderte in Deutschland in diesen Tagen für unser Menschenrecht auf Teilhabe kämpfen, dann müssen wir uns überdies fragen: Woran wollen wir teilhaben? Teilhaber zu sein an einem Wohlstand auf Kosten der erzwungenen Armut in großen Teilen der Welt, das darf unser Anliegen nicht sein. Ebensowenig wollen wir Teilhaber sein an den Profiten einer Pharmaindustrie auf Kosten von medizinischen Experimenten mit nichteinwilligungsfähigen Personen.
Aufwachen ist das Gegenteil von einschläfern. Erst in einer inklusiven Gesellschaft kann morgens um 7 die Welt in Ordnung sein.
Von Madevihotepa82
bezahlt die Werkstatt keinen einzigen CENT. Unglaublich oder? Der Clou jener Werkstätten ist, das die Beschäftigten IHR KAPITAL sind, immerhin finanzieren sich die Angestellten durch die Tagessätze, die sie für jeden pro Kopf erhalten. Im Eingangsverfahren des sogt. BBB sind es, unabhängig, was wer sonst noch erhält – bis zu 1.300€, dann im Arbeitsbereich, der ja erst nach 27 Monaten (!!) anfängt, sind es „nur“ noch 800-900€ pro Kopf. http://efiberlin.h2cl.de/wfbm.html (Die Angestellten, haben selbstverständlich Arbeitsverträge, können sich gewerkschaftlich organisieren und erhalten ein festes Gehalt. Letzteres wird aus den „Tagessätzen“ finanziert, die der Werkstatt „pro Beschäftigten“ zufließen. Es ist also unabhängig von der Produktivität, aber sehr abhängig von der Anzahl der „Beschäftigten“.) Und hierbei sollte ich nicht unerwähnt lassen, das die Beschäftigten sich gesetzlich sogar – man glaubt es ja kaum, aber ist`s eine Tatsache – nicht als Gewerkschaft organisieren dürfen. So wie ich das sehe, haben wir einen Verstoß gegen geltendes Menschenrecht.
Dies bedeutet, wenn jemand – sagen wir: 157€ erhält, die Werkstatt nur 56€ bezahlt. Unglaublich, oder?, und hättet ihr`s gewusst? Ach ja, es kommt noch schlimmer…Hat jemand kein Übergangsgeld oder eine Rente bzw. Erwerbsminderungsrente, so bezieht diese (r) von der Agentur für Arbeit 63€, und im zweiten Jahr 73€, also 6€ mehr. Jeder kommende Verdienst im Arbeitsbereich wird sodann von der jeweiligen Sozialen Leistung, wie Grundsicherung als Beispiel angerechnet; gleiches gilt fürs Mittagessen. http://www.53grad-nord.com/…/newsletter2012/12-august-1.html
Von Madevihotepa82
Heinrich Himmler würde sicherlich bezüglich Werkstätten den letzten Satz prägen, auch wenn ich ihn verachte: Die gegebene Situation, die sich in einem auftut, sogleich man engagiert darum recherchiert – ist geradezu schockierend. Und gleichzeitig legt es einem die Resignation nah. Es ist erschütternd und einfach nicht hinnehmbar. Es treibt einen letzten Endes in die Armut, und verstärkt das ohnehin prekäre Beschäftigungsverhältnis. Es gibt genügend sogenannte Situationen, an welchen ich exemplifizieren könnte, warum es nicht klappt und man Barrieren forciert; also verstärkt – anstatt positive Veränderungen zu etablieren. Jemanden, der lediglich ein schmales Taschengeld in Höhe von 180 ;- erhält, wird jeden Tag, so er denn zu Mittag isst, 2,50 ;-€ pauschal abgezogen. Wenn man es weiter hinunterrechnet, wird deutlich, was am Ende übrig bleibt. Die Motivation ist dementsprechend. Und die dumm-dreiste Maxime, man solle ja froh sein zu arbeiten bzw. eine Möglichkeit zu haben, den Tag herum zu bekommen: ist lächerlich-absurd und scheinheilig obendrein. Zynisch könnte man hierzu vermerken, das es dem alt-bekannten Spruch umformulierend nahekommt: Wer arbeitet, ist frei oder doch nicht?
Ich weiß nicht, ob es allen bewusst ist, doch macht euch mal folgendes klar: Die Werkstätten erhalten von dem zuständigen Rehabilitationsträger zur Auszahlung an die im Arbeitsbereich beschäftigten behinderten Menschen zusätzlich zu den Vergütungen nach § 41 Abs. 3 ein Arbeitsförderungsgeld. Damit wird überdeutlich, was für ein recht befremdlich- wirkendes Spiel mit den Beschäftigten eigentlich und wirklich betrieben wird. Denn das Arbeitsförderungsgeld liegt bei 26€ Brutto wohlgemerkt, plus dem Grundgehalt von 75€ (§ 138 Abs. 2 SGB IX) und somit wäre man bei 101€ angekommen. Und Obacht: Das bezahlt erst einmal der Staat! In den ersten zwei Jahren, dem sogt. Eingangsbereich – auch BBB, also Berufsbildungsbreich genannt – wo übrigens niemand ernsthaft ausgebildet wird, bezahlt die Werkstat