Mensch gib Acht

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

"Stets findet Überraschung statt, da wo man's nicht erwartet hat" – so reimte schon Wilhelm Busch. Eine Überraschung ist, womit man nicht gerechnet hat. So verteilte die SPD jetzt noch vor Ostern und sogar noch vor Karfreitag, bevor der Hahn dreimal kräht, völlig unerwartete Überraschungseier, mit denen sie verkündet: "Wir sind die Inklusionspartei in Deutschland."

Da staunte man nicht schlecht: Gemeinsam Seit an Seit Ziele beschreiben, gemeinsam denken, handeln und umsetzen sei durch den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz überragend dokumentiert worden, verkündete der Bundesvorsitzende der "Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv – Menschen mit Behinderungen in der SPD", Karl Finke. "In seiner Rede, die vom sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit geprägt war, waren auch Aussagen zur Bedeutung ehrenamtlichen Einsatzes für beeinträchtigte Menschen enthalten." Wie konnten wir undankbaren Behinderten das bloß übersehen?

"O Mensch! Gib Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?", dichtete Friedrich Nietzsche in seinem Nachtwandler-Lied.

"Wo Martin Schulz drauf steht – ist 100 Prozent SPD drin, auch das Ziel der Inklusion", verkündete am 23. März die Propagandaabteilung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Komisch. Das haben wir garnicht gemerkt. Haben wir vielleicht geschlafen? So wie Nietzsche, der weiter schrieb in seinem Vers:

"Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!"

"Ich sag dir: So geht das nicht, sagt der Sozialdemokrat und spricht. Ja fünfundvierzig, da hätten wir zuschlagen müssen. Zack, dann wären wir am Drücker gewesen. So, dann hätten die andern mal kommen sollen, dann hätten wir diesen Staat gemacht. Aber heute geht das nicht mehr. Jetzt müssen wir zählen, Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt, sagt der alte ewige Sozialdemokrat und spricht, und spricht, und spricht - bloß ändern, das will er nicht" (aus: "Entschuldigung eines alten Sozialdemokraten", Songtext von Franz Josef Degenhardt.)

Naja, und vorerst ist der Schulz, der als Tiger abgesprungen ist, in Saarbrücken als Bettvorleger gelandet. Was für eine Überraschung nach der großartigen Spülung des Bundesteilhabeverhinderungsgesetzes und all dem Mist ins politische Plumpsklo.

Wie könnte es wohl kommen, wenn wir Behinderte daran denken, dass sich der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz als der große Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit plakatieren lässt, obwohl er seit 1999 Mitglied im Parteivorstand und im Präsidium der SPD ist und die ganze Palette der Sauereien des Sozialkahlschlags mitgetragen hat? Zusammen mit der Bundesteilhabeverhinderin Andrea Nahles rühmt er sich für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit gerade einmal schlappen 8,84 Euro. Da fragte sich gestern die WDR-Korrespondentin Charlotte Gnändiger öffentlich auf tagesschau.de: "Mit 1,50 Euro pro Stunde sind viele Behinderte, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, meilenweit vom Mindestlohn entfernt. Obwohl viele eine ganze normale Fünf-Tage-Arbeitswoche haben. Warum ist das so?"

Dabei gebe es in Behindertenwerkstätten viele Mitarbeiter, deren Beschäftigungsumfang durchaus mit dem klassischer Arbeitnehmer vergleichbar sei: "Sie haben eine Fünf-Tage-Woche mit bis zu 39 Stunden. Finanziell gleichgestellt sind sie trotzdem nicht", ergab die Recherche der Journalistin. Zitiert wird der Referent beim Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen Reinhard Jankuhn: "Die Bezahlung ist nicht fair und in vielen Fällen der Leistung auch überhaupt nicht angemessen. Wir fordern eine Entlohnung, die so bemessen ist, dass sie ein selbstständiges Leben ohne andere Zuwendungen ermöglicht." Zu viele Behinderte seien trotz ihrer Arbeit auf Sozialhilfe angewiesen.

In ca. 700 solcher sogenannten Behindertenwerkstätten arbeiten in Deutschland rund 300.000 behinderte Menschen. Seitens der Werkstätten heißt es, "man engagiere sich für die berufliche Aus- und Weiterbildung der behinderten Mitarbeiter, unterstütze sie bei der Suche nach Praktika oder nach 'betriebsintegrierten' Arbeitsplätzen - oder auch bei der Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt." Doch Reinhard Jankuhn weiß: "Es gibt ein Problem, das auch immer wieder von den Werkstatt-Beschäftigten selbst genannt wird: Dass Werkstätten natürlich ein Interesse daran haben, qualifizierte Beschäftigte auch zu behalten."

Im SPD geführten Arbeitsministerium sieht man keinen Anlass, den gesetzlichen Mindestlohn auch für behinderte Menschen gelten zu lassen. Die Tür für die Gleichstellung behinderter Menschen in Deutschland ist fest verschlossen. Dafür sorgt die eiserne Armutsfalle durch die Beutelschneider-Allianz aus CDU/CSU und SPD, und dafür stehen ihre Kanzlerkandidaten Martin Schulz und Angela Merkel.

Meine Frau stand gestern Nachmittag in unserem kleinen Garten und resümierte: "Irgendwas kommt da. Ich weiß bloß noch nicht was."

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. - Heißt es.

"lichtung

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum"
(Ernst Jandl)

Richtig muss es bei Lichte betrachtet jedoch heißen: Erstens kommt es nur anders, wenn man zweitens denkt.