Wer braucht eigentlich Barrieren?

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

Als die Menschen am Ende der Urgesellschaft die Kenntnisse und Fähigkeiten entwickelt haben, die regelmäßigen Jahreszeitzyklen in der Natur zu entdecken und für Ackerbau und Viehzucht zu nutzen, mussten sie nicht mehr als Jäger und Nomaden den Herden ihrer Beutetiere hinterher ziehen, um sich und ihre Sippen zu ernähren. Sie wurden sesshaft, bildeten Siedlungen und errichteten sich wetterbeständige Behausungen. So schufen sie feste Wohnungen als Unterkünfte zum Schutz vor Witterung, konnten ihre Nahrungsmittel aufbewahren und zubereiten und bildeten gemeinsame Gestaltungsspielräume für die gesellschaftliche Kooperation. Das Bedürfnis nach einer Wohnung wurde so zu einem menschlichen Grundbedürfnis. In der deutschen Etymologie des Wortes "wohnen" heißt es: "mittelhochdeutsch wonen, althochdeutsch wonēn = sich aufhalten, bleiben, wohnen; gewohnt sein, verwandt mit gewinnen und eigentlich = nach etwas trachten, gernhaben, dann: Gefallen finden, zufrieden sein, sich gewöhnen."

Im deutschen Bewertungsgesetz (BewG) § 181 wird im Abs. 9 eine Wohnung im juristischen Sinn beschrieben: "Eine Wohnung ist die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen, die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist. Die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen muss eine von anderen Wohnungen oder Räumen, insbesondere Wohnräumen, baulich getrennte, in sich abgeschlossene Wohneinheit bilden und einen selbständigen Zugang haben."

Das Recht auf Wohnen ist "fest verankert in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in dem von Deutschland ratifizierten UN-Sozialpakt von 1966 (seit 1976 in Kraft). Ausdrücklich findet es sich auch in anderen globalen und regionalen Menschenrechtsabkommen. Inhaltlich konkretisiert wurde es nicht zuletzt durch die Allgemeinen Kommentare des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die Berichte der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Wohnen. Das Menschenrecht auf Wohnen fordert die hinreichende Verfügbarkeit und den Schutz angemessenen Wohnraums, einen offenen, diskriminierungsfreien und bezahlbaren Zugang zu Wohnraum sowie eine menschenwürdige Wohnqualität und Wohnlage. Ebenso wie andere soziale Menschenrechte stellt es keine Maximalforderungen auf, sondern formuliert Mindestgarantien für ein menschenwürdiges Leben, welche die Staaten zu achten, zu schützen und zu gewährleisten haben. Dabei ist eine sichere, angemessene und dauerhaft finanzierbare Wohnung eine unabdingbare Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben …" (Nürnberger Menschenrechtszentrum (NMRZ)

2014 hatten 335.000 Menschen in Deutschland (davon etwa 29.000 Kinder) keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Weitere 130.000 Menschen waren oder sind von Wohnungslosigkeit bedroht, von Mietpreissteigerungen, die sie nicht finanzieren können. Mindestens 24.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Der deutsche Mieterbund ermittelte für dieses Jahr einen Fehlbestand von 825.000 Mietwohnungen.

Besonders drastisch ist die Wohnsituation für behinderte Menschen in Deutschland. Barrierefreie Wohnungen, in denen behinderte Menschen ungehindert leben können, sind wahre Raritäten. Nach einer Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. gibt es bis 2030 einen Fehlbedarf von minimal 2,9 Millionen barrierefreien Wohnungen. Allein für Rollstuhlfahrer fehlen 517.000 barrierefreie Wohnungen, so dass für die Hälfte der Rollstuhlfahrer kein geeigneter Wohnraum zur Verfügung steht. Gemessen an der demographischen Entwicklung fehlen in Deutschland bis 2020 mindestens weitere 800.000 barrierefreie Mietwohneinheiten, so ermittelten Gerhard Loeschcke und Daniela Pourat als maßgeblich im DIN-Ausschuss Barrierefreies Bauen engagierte Experten. Die Autoren der Studie "Wohnen im Alter" prognostizieren: "Wenn (…) nur für die älteren Menschen mit Bewegungseinschränkungen entsprechende Wohnungsangebote zur Verfügung gestellt werden sollten, muss (…) das Angebot um das Vier- bis Fünffache ausgeweitet werden. Dies entspricht kurzfristig einem zusätzlichen Bedarf von ca. 2,5 Mio. barrierefreien Wohnungsangeboten. Bis 2020 wird erwartet, dass der Bedarf auf ca. 3 Mio. ansteigen wird". Angesichts dessen überschreitet es jede Grenze der politischen Ignoranz, dass in der Muster-Liste der Technischen Baubestimmungen (MLTB) die DIN 18040-2 nicht in vollem Umfang eingeführt wird.

In Anbetracht der völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Menschenrechte muss der Staat auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene effektive Maßnahmen ergreifen, um diese prekäre und diskriminierende Wohnungsnot zu beseitigen. In Deutschland jedoch bilden die Lobbyisten der milliardenschweren Privatinvestoren (Geldsäcke) und die von ihnen alimentierten Regierungsparteien längst eine Parallelgesellschaft. Sie sorgen dafür, dass die Wohnungen nicht nach den Bedürfnissen der Bevölkerung, sondern nach den Profiterwartungen der Investmentgesellschaften auf dem Kapitalmarkt geplant und gebaut werden. Wie eine neue Studie von miettest e.V. zeigt, zahlen die Wohnungsmieter in Deutschland gemessen an der gesetzlichen "Mietpreisbremse" jedes Jahr 310 Millionen Euro zu viel Miete. Demnach liegt die Verletzungsquote bundesweit bei sage und schreibe 44 Prozent = im Klartext: Fast jede zweite Wohnungsmiete ist ein Gesetzesverstoß. Das Gesetz der "Mietpreisbremse" wurde erfunden und beschlossen in der großen Koalition von CDU/CSU und SPD. Seit diesem mehr als zweifelhaften Gesetz sind die Mieten schneller gestiegen als je zuvor.

Falls behinderte Menschen vielleicht glücklicherweise tatsächlich eine barrierefreie Wohnung haben sollten, heißt das in aller Regel, dass sie wegen des erhöhten Platzbedarfs sogar noch drastischer beschissen werden mit überhöhten Mietzahlungen.

Und was uns droht, wenn nach der Bundestagswahl die überflüssige FDP wieder Teilhaber einer Regierungskoalition würde, das kann man sich mit einem Blick auf das Gruselkabinett in Düsseldorf anschaulich machen. Die neue CDU-FDP Koalition in Nordrhein-Westfalen hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Quote für rollstuhlgerechte Wohnungen in der Landesbauordnung durch ein Moratorium zu kippen, denn die FDP will bekanntlich erklärtermaßen die Inklusion "auf Eis legen". Der NRW-Landesverband des Sozialverbands Deutschland (SOVD) stellte hierzu fest, dass selbst die von SPD und Grünen in Nordrhein-Westfalen beschlossene Rollstuhlquote für Neubauten schon nicht ausgereicht hätte, "um dem Mangel an barrierefreiem, rollstuhltauglichem Wohnraum in absehbaren Zeiträumen abzuhelfen und ein auswahlfähiges Angebot an solchen Wohnungen zu schaffen". Deshalb fordert der SOVD inzwischen, dass sämtliche Neubauwohnungen künftig barrierefrei gebaut werden sollen.

Warum auch nicht? Barrieren schließen aus oder sperren ein, sie schaffen Gefängnisse und Festungen. Wer braucht eigentlich Barrieren in Mietwohnungen?

Überdies könnten auch in einem Zeitraum von 30 Jahren alle Bestandswohnungen barrierefrei modernisiert werden. Denn nach einer Erhebung des Instituts Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt sind bis 2050 alle Bestandsgebäude in Hessen voll oder bauteilspezifisch sanierungsbedürftig. In den anderen Bundesländern dürfte das kaum anders sein. Das wären Investitionen, die sich lohnen, weil sie nicht nur zeitgemäß sind, sondern auch noch die völkerrechtlich verpflichtenden Menschenrechte endlich umsetzen würden. Die antiquarischen Bedenken wegen angeblich unverhältnismäßigen Mehrkosten für barrierefreies Bauen befinden sich ohnehin inzwischen längst in der Klamottenkiste auf dem Sperrmüll anachronistischer Bedenkenträgerberechnungen, weil sie auf das Ganze berechnet schon früher nicht gestimmt haben. Inzwischen weiß man längst, dass breitere Türen, niedriger angebrachte Lichtschalter und Armaturen, moderne Toiletten, Duschen und Bäder, zweckmäßige Küchen, sinnvolle Raumaufteilungen und die vertikale Gebäudeerschließung keine Mehrkosten im allgemeinen Wohnungsbau mehr verursachen. Im Gegenteil. Nichts ist so kostspielig wie die Errichtung von Barrieren und die dauerhafte Aussonderung in exklusiven Sonderwohnformen.

Seit 48 Jahren bin ich Rollstuhlfahrer. Nichtbehinderte Menschen brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich sie noch niemals besucht habe, weil sie eingemauert sind hinter Barrieren, die kein Mensch braucht, und die wir alle bezahlen müssen.

Lesermeinungen zu “Wer braucht eigentlich Barrieren?” (20)

Von rgr

Als Barrieren dienen sie dem Zwecke, sich Unbequemendes, Raumgreifendes und Ruhestörendes vom Eigentume fern zu halten.

Von kirsti

@Lesebrille

Wir sind vom BGH höchstpersönlich gedemütigt worden und uns ist Unrecht gesprochen worden. Das wussten auch die anwesenden Rechtsreferendare, die bei der Urteilsverkündung ihren Unmut nicht unterdrückten. Dennoch das Urteil war und ist Recht! Daher nehme ich mir folgendes heraus:

Wer meint, die Gerichte in Deutschland hätten das Recht für immer gepachtet und sprächen unveränderliches Recht, hat der Recht? Denn eines Tages könnte das BTHG auf dem Tisch einer Vorsitzenden Richterin oder eines Vorsitzenden Richters im BGH landen und für gültiges Recht befunden werden. Denn so ist es vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden und unterschrieben mit der Unterschrift des Bundespräsidenten. Wollen wir uns damit zufrieden geben? Und dieses BTHG als unser Recht anerkennen? Wenn es soweit kommt, werde ich Sie, Lesebrille, darauf aufmerksam machen, dass Sie sich das Recht „nicht zurechtbiegen“ können, wie Sie wollen!

Im Übrigen – veränderlich und vergänglich ist alles, das zeigt die „Ehe für Alle“- vor ein paar Tagen noch nicht Recht und heute…?

Nach Duden, dem Rechthaber der deutschen Rechtschreibung, heißt und hieß es zum „Recht“ und zur Rechtschreibung im „Recht haben“:

bis 1996:
recht haben [kleines r im Recht, das man hat oder nicht],

nach der Reformschreibung von 1996 bis 2004 bzw. 2006 hingegen:
Recht haben [großes R im Recht, das man hat oder nicht],

ab 2004/2006:
sind beide Schreibweisen erlaubt,
wobei die vom Duden- Verlag bevorzugte das kleine r ist:
also:

recht haben
ich habe recht, du hast recht, er sie es hat recht, wir haben recht, ihr habt recht, sie haben recht….

Wie verhält es sich nun mit dem Recht in Deutschland?

Haben wir Recht mit der UN-BRK oder liegen wir alle falsch?

Freundliche Grüße

Von Lesebrille

@kirsti: Ich wüsste nicht, wann ich das bestritten hätte.

Von kirsti

Noch ein letztes an Lesebrille; jenseits aller Diskussionen um BGH- Recht und persönlichen Auffassungen zu möglichen Auslegungen gehen wir wohl darin einig, dass dieses BGH- Urteil, ob es nun nach dem Buchstaben des Gesetzes richtig oder falsch sei, eine persönliche Katastrophe für den klagenden älteren Herrn und seine Familie ist.

Von Lesebrille

Doch noch ein kleines P.S. (Ich hatte einen Hinweis von @kirsti übersehen): Die ganze Gerichtsverhandlung dreht sich nicht um einen Aussenaufzug.

Gegenstand ist der gewünschte Innenaufzug.

Wie es sich hier in diesem Fall mit einem Aussenaufzug verhielte, ist völlig unklar. Aber auch der Aussenaufzug kann einer/m Wohnungseigentümer*in versagt werden:
Da sie ihre Wohnung über die Treppe nicht mehr erreichen kann, müsste das Anbringen des Aufzugs für die anderen WohnungseigentümerInnen schon mit einer massive Beeinträchtigung verbunden sein, um die Duldung zu versagen (z.B. erheblicher Eingriff in die Substanz des Gemeinschaftseigentums, der damit einhergeht, dass ein Teil der Außenanlagen in der bisherigen Form gar nicht mehr oder nur erheblich eingeschränkt genutzt werden kann).

Der Text steht direkt unter dem, den Sie, Kirsti, zitieren.

Von Lesebrille

Letzter Beitrag dazu:

Ich nehme an, dass besagte Enkelin tatsächlich schon bei Erwerb der Wohnung (schwer)behindert war oder die Behinderung begann, und abzusehen war, dass ihr Besuch bei den Grosseltern sich aufgrund der Treppen schwierig gestaltet. Sie ist ja schwer gehbehindert. Wie komme ich darauf? Ich komme deshalb darauf, weil ein Absatz im Urteil damit einen sehr nachvollziehbaren Sinn erhielte:

Zwar ist die Wohnung des Klägers den Feststellungen des Berufungsgerichts zufolge schwer veräußerlich und für eine gehbehinderte Person nur mit einem Personenaufzug gut zu erreichen. Es hat sich aber ein Risiko verwirklicht, das der Kläger eingegangen ist, als er in der konkreten Region eine im fünften Obergeschoss gelegene Wohnung erworben hat, die mit niederschwelligen Hilfsmitteln wie einem Treppenlift nicht ohne weiteres zugänglich gemacht werden kann.

Sprich: der Kläger wusste sehr wohl von dem Risiko, ist es aber dennoch eingegangen.

Von Lesebrille

3. Teil:

Hier in diesem Fall wird ebenfalls die Verkehrssicherungspflicht** im Urteil angesprochen. Der Kläger schafft mit dem Einbau eines Fahrstuhls eine Gefahrenquelle (bitte die Besonderheit dieses Treppenhauses beachten). Daraus ergeben sich Haftungsprobleme.

Zusammenfassung: Ich gehe davon aus, dass dem BGH, unter Abwägung sämtlicher betroffener Rechte und Möglichkeiten, keine Möglichkeit sah, diesen Fall an das BVerfG weiterzugeben.

*http://www.berliner-zeitung.de/berlin/brandenburg/cottbus-streit-um-fahrstuhl-einbau-geht-vor-bundesgerichtshof--25523016

**https://de.wikipedia.org/wiki/Verkehrssicherungspflicht

Ich habe übrigens nichts dagegen, wenn sich Jurist*innen ebenfalls zum Fall äussern würden. Mein Wissen beschränkt sich die Gesetze der Sozialberufe.

Von Lesebrille

Einen Teil der Hintergrundfakten ist mir erst nach Recherche (und nachdem der Groschen endlich gefallen war) klargeworden:

Als der Kläger nämlich einzog, zog er logischerweise als Mieter ein - er lebt in Cottbus!

- 1971 fängt Honecker an, aufgrund des massiven Wohnungsmangels in der DDR, Plattenbausiedlungen aus dem Boden zu stampfen. Die Wohnungsgrössen sind vorgeschrieben, die Wohnungen werden zugewiesen.
- Ende der 70er zieht die Familie des Klägers ein.
- 1982 wird die Enkeltochter geboren. Da die Grosseltern, laut einem Zeitungsartikel* die 35jährige schwerbehinderte Enkelin schon seit Jahrzehnten betreuen, ist davon auszugehen, dass diese schon seit der Kindheit behindert ist.
- 1989 fällt die Mauer. Erst danach, wann danach ist unklar, werden die Plattenbauten teils abgerissen, teils saniert. Die Wohnungen werden dem freien Markt unterstellt, die Zuweisungen entfallen, Mietwohnungen werden teilweise in Eigentumswohnungen umgewandelt.

Der Kläger und seine Familie kaufen also die Wohnungen irgendwann in den 90ern oder später. Da ist die Enkelin längst auf der Welt und vielleicht - aber das ist Spekulation - auch schon behindert.

Vor diesem Hintergrund muss der Fall betrachtet werden.

Von Lesebrille

@kirsti: Ich gehe davon aus, dass in diesem Einzelfall, darauf weisst ja auch die Seite Nullbarriere hin, die Möglichkeit insgesamt so schlecht steht, den Fahrstuhl überhaupt einbauen zu können, dass eine Weitergabe an das BVerG sich wohl erübrigt.

Für einen Fahrstuhleinbau müssten auch die Grundrechte der anderen Wohnungsbesitzer*innen massiv beschnitten werden dürfen - dauerhaft. Denn der Fahrstuhl ist, anders als ein Treppenlift oder eine Rampe, gerade nicht einfach rückbaubar. Die Nachbarn wären nach derzeitigem Rechststand also gezwungen, dauerhaft die Unterhaltungs-, sowie Versicherungskosten für den Fahrstuhl zu tragen, oder sie müssten, mit starken Verlusten, ihre Wohnungen verkaufen. Nur den Verkauf hat ja, davon gehe ich aus, auch der Kläger schon versucht (siehe Vorinstanz) - ohne Erfolg.

Fortsetzung folgt...

Von kirsti

@ Lesebrille
Falls der BGH auf eine notwendige Fortentwicklung des Rechts erkannt hätte, wie Sie annehmen, dann hätte es dem BGH offen gestanden, dies durch Vorlage beim Bundesverfassungsgericht zu erreichen. So ist es bei anderen BGH-Entscheidungen geschehen, wie jüngst im Fall der sogenannten „Zwangsbehandlung bei immobilen psychisch Kranken“ (kobinet berichtete).- Dem BGH obliegt es nur, in letzter Instanz Recht zu sprechen. Falls er selbst auf weiteren gesetzlichen Regelungsbedarf erkannt hätte, hätte er einen „Fingerzeig“ in Richtung Verfassungsbeschwerde gegeben. Nur über diesen Weg der Vorlage beim Verfassungsgericht sind gesetzliche Änderungen möglich. Von einer Vorlage beim BVerfG ist mir im vorliegenden Fall nichts bekannt.

Von kirsti

@ Lesebrille
Obwohl ich nicht recht haben will:
Zunächst greift der Passus:
„Das Interesse des Herrn auf leichten und gefährdungsfreien Zugang zu seiner Wohnung wird in Inhalt und Umfang von Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 GG mitgeprägt.“
In die Einzelfallgerechtigkeit geht ein:

1.Der Einbau ist bei „Güterabwägung stets zu dulden, wenn der Hausflur so breit ist, dass die anderen Wohnungseigentümer nicht beeinträchtigt werden.

2. Und das ist vorliegend entscheidend:
Verschlechtert sich der Zustand so weit, dass er die Stufen nicht alleine überwinden kann, so hätte Herr… einen Anspruch auf Duldung [des hier geplanten Treppenlifts].

Im nächsten zit. Beispiel ist sogar der Einbau einer Außenaufzuganlage von der WEG zu dulden, wenn die Wohnung nicht anders zu erreichen ist. Die Beeinträchtigungen der WEG müssten schon so erheblich sein, dass sie bei nüchtern und sachlich wägender Abwägung überhaupt nicht mehr zu ertragen wären, d.h. je stärker der Grad der der Behinderung des Nutzers umso mehr treten die Ansprüche der WEG zurück!

Von Lesebrille

@kirsti: Ich verstehe, was Ihnen am Herzen liegt. Mit Ihrem Anliegen rennen Sie bei mir offene Türen ein. Dennoch sind Sie erneut dabei, sich das Recht zurechtzubiegen, wie Sie es gerne hätten. Sie zitieren zwar, aber unsauber!

Vor dem Text "Bei dem Recht..." gibt es eine Zwischenüberschrift, die müssen Sie schon mitzitieren: 1. Herr B. und der Treppenlift.

Schon jetzt muss eine Wohnungseigentümergemeinschaft Rollstuhlrampen bzw. einen Treppenlift akzeptieren. Ein Fahrstuhl, das macht der Text darüber deutlich, hat eine ganz andere Bewertung, denn er ist grösser und benötigt viel mehr von dem Raum, den sich die Wohnungseigentümer*innen teilen.

Dazu ist also eine Einzelfallentscheidung vonnöten, damit der Umbau "das hinzunehmende Maß der Beeinträchtigung nicht übersteig[t]." (siehe § 14, Nr. 1 WEG) Denn hier stehen sich die grundrechtlich geschützten Interessen der Wohnungseigentümer*innen gegenüber. Siehe Text!

Das mag dem 80jährigen Kläger ungerecht erscheinen und es ist für ihn definitiv unbefriedigend, aber vor dem geltenden Recht ist es ein völlig korrektes Urteil.

Sie müssen sich mit der tatsächlichen räumlichen wie monetären Belastung der Mitbesitzer*innen auseinandersetzen. Sie können nicht das Grundrecht des einen, nur weil dieser behindert ist, gegen die Grundrechte seiner Nachbar*innen hier ausspielen, das geht nicht. Es geht hier um die Besonderheiten im Recht von Wohnungseigentümergemeinschaften.

Wenn Sie übrigens den Zeit-Artikel gelesen hätten, dann hätten Sie auch verstanden, dass die Richterin selbst davon spricht, dass hier der Gesetzgeber tätig werden könnte, würde er hier eine Besserstellung durchsetzen wollen.

Das heisst aber im Umkehrschluss eben auch: noch ist das nicht der Fall! Der BGH hat sauber gearbeitet.

Kirsti, ein korrektes Urteil muss nicht bedeuten, dass es das ist, was der Kläger sich wünscht.

Von kirsti

@ Lesebrille
Danke für den Link https://nullbarriere.de/wohnungseigentum-barrierefrei.htm.

Denn es ist laut der „Reform des Wohnungseigentümergesetzes am 01.07.2007“
folgendes rechtlich geklärt:

„Aus dem Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen gemäß Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) folgt, dass Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen einen barrierefreien Zugang zu ihrem Wohnungseigentum ermöglichen in der Regel das nach § 14 Nr. 1 WEG hinzunehmende Maß der Beeinträchtigung nicht übersteigen.
Allerdings kann die konkrete Einzelfallprüfung, in der die sich gegenüberstehenden grundrechtlich geschützten Interessen der WohnungseigentümerInnen abzuwägen sind, ausnahmsweise zu einem anderen Ergebnis führen.

Bei dem Recht auf barrierefreien Zugang kommt es maßgeblich auf den Grad der Gehbehinderung des Herrn … an. Je schwerwiegender die Gehbehinderung und die damit verbundene Beeinträchtigung, desto eher müssen die Interessen der anderen Wohnungseigentümer auf eine ungestörte und uneingeschränkte Nutzungsmöglichkeit des Treppenhauses zurückweichen.“

Insofern hält das inkriminierte BGH- Urteil V ZR 96/16 einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Es ergeben sich ganz neue Aussichten für eine Verfassungsbeschwerde, falls noch nicht geschehen!

Von Lesebrille

Hier noch ein gut erklärender Link: https://nullbarriere.de/wohnungseigentum-barrierefrei.htm zum Thema, das 'Kirsti' ins Spiel brachte.

Übrigens zeigt es gut, dass nachträgliches Abbauen von Barrieren eben nicht immer möglich ist, da es auch an der Statik des Gebäudes selbst, oder am fehlenden Platz im und um das Gebäude herum scheitern kann.

Daher ist es ja auch so wichtig, Barrieren erst gar nicht entstehen zu lassen!

Von kirsti

@Lesebrille

„Der BGH hat hier lediglich im rechtlichen Rahmen, der ihm zu Verfügung stand, geurteilt.“

Stand dem BGH nicht der Artikel 3 GG zur Verfügung? – Er hatte ihn als Rechtsvorlage!

Aber: Da ich überzeugt davon bin, dass Sie das letzte Wort haben werden:
Ein Hoch auf bessere Zeiten und bessere Gesetze; das BTHG sei unser Vorreiter!

Von Lesebrille

@kirsti: Es ging um eine Änderung, also Anpassung des Rechts. Der BGH hat hier lediglich im rechtlichen Rahmen, der ihm zu Verfügung stand, geurteilt.

"Wir sehen, dass er wahrscheinlich auf absehbare Zeit seine Wohnung im fünften Stock nicht mehr wird nutzen können", sagte die Vorsitzende Richterin Christina Stresemann. Der Einbau eines Aufzugs sei aber mit derart großen Eingriffen verbunden, dass die Miteigentümer dies nach derzeitiger Rechtslage nicht hinnehmen müssten. Sollte die Politik Ältere besserstellen wollen, wäre das aber über eine Gesetzesänderung möglich. (Az. V ZR 96/16) "
(http://www.zeit.de/news/2017-01/13/prozesse-streit-um-fahrstuhl-einbau-in-wohnhaus-landet-vor-bgh-13085604)

Von kirsti

@Lesebrille

Nichts für ungut, wie schon einmal gesagt! Aber Sie wissen doch auch, dass der BGH in Deutschland die letzte zivilrechtliche Instanz ist?- Auch nach Zurückverweisung an das LG kenne ich kein einziges Urteil im Zivilrecht, das nicht dem BGH gemäß ausgelegt wurde. Oder Sie? Dann nennen Sie es!

Es bleibt: Der BGH in Karlsruhe hat sich in diesem Fall unter Abwägung von Artikel 3 Absatz 3 GG des Diskriminierungsverbotes versus Artikel 14 GG des Schutzes des Eigentums für den Schutz des Eigentums entschieden!-

Dass dies eine Frage der Einzelfallgerechtigkeit ist, ist ein Allgemeinplatz. Denn es sind immer Einzelfälle, über die Gerichte, so auch der BGH entscheiden.

Honi soi qui mal y pense!

Nach dem Instanzenweg bleibt nur noch, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Aber auch dort kann man alleine durch „Nicht-Annahme“ scheitern. Stichwort: „NPD- Verbot!"

Von Lesebrille

Lieber Harald, um das Gruseln zu bekommen, muss man gar nicht soweit rollen (Düsseldorf):

Wie hat es Herr Junker hier in Frankfurt in einem Interview so hübsch gesagt: "Wenn man unter zehn Euro bauen will, geht das nur ohne Denkverbote. Braucht man für jede Wohnung einen Stellplatz, muss jede Wohnung barrierefrei sein?"

Dass er Barrierefreiheit mit einem Parkplatz auf eine Stufe stellt, hat schon was, doch doch...! Schliesslich kann man hier in F. wunderbar den ÖPNV benutzen.

Jetzt rätsele ich nur herum, was Herr Junker analog zum ÖPNV für krücken-/rollator-/rollstuhlnutzende Menschen im Blick hat, um auf die Barrierefreiheit verzichten zu können?? Und warum er suggerieren möchte, dass bisher alle Wohnungen barrierefrei gebaut werden mussten???

http://www.fr.de/frankfurt/wohnen/wohnen-in-frankfurt-guenstig-bauen-geht-nur-ohne-denkverbote-a-384914

Von Lesebrille

@kirsti: Sie unterstellen hier dem BGH etwas, das schlicht so nicht stimmt.

Hier ging es um einen ganz konkreten Fall: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=77127&linked=pm

Einfacher zu verstehen: http://www.zeit.de/news/2017-01/13/prozesse-streit-um-fahrstuhl-einbau-in-wohnhaus-landet-vor-bgh-13085604 ,
sowie: https://www.wohnen-im-eigentum.de/pm/barierrefreiheit-bgh-entscheidung-170113

Es geht also keineswegs darum, dass die Barrierefreiheit nachrangig ist, ein Treppenlift hätten nämlich alle hinnehmen müssen, sondern darum, dass der Fahrstuhl baulich ein solcher Eingriff in den Wohnraum aller war, dass er nicht durchsetzbar ist.

Und wer sich das Lesen der angegebenen Links sparen möchte: das Urteil sagt auch, dass eine Rechtsänderung selbstverständlich möglich wäre.

Von kirsti

Zu Barrieren und anderen Brettern vor dem Kopf

1. Solange der BGH Karlsruhe (Urteil vom 13. Januar 2017 – V ZR 96/16), in letzter zivilrechtlicher Instanz der Bundesrepublik Deutschland sinngemäß urteilt, dass Behinderung ein „Risiko“ sei, das sich „verwirklicht“ habe und in Abwägung anderer Rechtsgüter, Barrierefreiheit eben nachrangig sei und dieses Urteil auch noch in kobinet- Lesermeinungen für „richtig“ befunden wird, was wollen Sie vom nichtbehinderten „Normalbürger“ erwarten?

Aus der Begründung des BGH- Urteils:
„Mit dem Grundgesetz ist dieses Ergebnis vereinbar. Zwar ist die Wohnung des Klägers den Feststellungen des Berufungsgerichts zufolge schwer veräußerlich und für eine gehbehinderte Person nur mit einem Personenaufzug gut zu erreichen. Es hat sich aber ein Risiko verwirklicht, das der Kläger eingegangen ist, als er in der konkreten Region eine im fünften Obergeschoss gelegene Wohnung erworben hat, die mit niederschwelligen Hilfsmitteln wie einem Treppenlift nicht ohne weiteres zugänglich gemacht werden kann….“

2. Kobinet-Nachrichten „Barrierefreiheit bedarf der Zustimmung“
www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/35373?rss=true
Veröffentlicht am Freitag, 27. Januar 2017;
mit anschließenden Lesermeinungen, die dieses Urteil in kontrovers geführter Diskussion z.T. vehement verteidigen, was will und kann man da noch von der Allgemeinheit erwarten?