Auf dem Boden der Tatsachen

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

Zusehends werden die Tage kürzer und die Nächte länger, und Deutschland steht ohne Nachtwächter-Regierung da. Die Wähler hatten die Wahl, und sie haben gewählt. Die Gewählten kommen nun aber mit dem Wahlergebnis nicht klar und finden keine Regierung. Stattdessen haben wir inzwischen eine Geschäftsführung mitsamt Geschäftsführerin, und man befindet sich getrennt von Tisch und Bett, zerrüttet im Glyphosat-Gate. Jeder weiß, das kann nix mehr werden.

So wie zuvor von einem GroKo-Deal regiert zu werden, das wollten am 24. September die Wähler nicht mehr. Und da fällt den Ministrantinnen und Ministranten doch glatt der Heiligenschein vom Haupt und der Weihnachtsbaumschmuck aus dem Dekolleté. So blöd sind sie noch niemals nicht wiedergewählt worden. Sudoku oder was? Polit-Mikado – wer sich zuerst bewegt hat verloren?

Kompliziert. Macht Nix. Dem ratlos geneigten Publikum werden zur Pseudo-Aufklärung im Wanderzirkus mit der Polit-TV-Show-Manege Professoren vorgeführt, die so tun, als sei Politik eine Wissenschaft. Dabei geht es in der Politik immer um die Machtfrage. Und die Frage ist: Macht für wen? - Wer glaubt denn noch an den Weihnachtsmann? Niemand, außer Coca-Cola. Trotzdem rückt Weihnachten schon wieder näher. The same procedure as every year. Aber das ist doch Religion, oder nicht? Oh Tannenbaum! Quatsch, bei Weihnachten geht es um den Konsumrausch. Und um die Milliarden-Umsätze des Einzelhandels. Das ist Wirtschaft. Dafür gibt es auch Professoren, die so tun, als sei das eine Wissenschaft. Und die wird betrieben wie eine Religion. Dabei geht es kaum um mehr als um nix für die Meisten, die die Kaufhauskassen füllen und um alles für die Wenigen, die die Milliarden aus den Kaufhauskassen einsacken. Und auch hier ist die Frage: Wozu das ganze Theater? Süßer die Kassen nie klimpern als zu der Wei-hei-nachtszeit, es ist als ob Engelein singen, wieder von Mammon und Freud’. Wie sie gesungen in seliger Nacht, Klimpern mit heiligem Klang, klinget die Erde entlang!

Jedenfalls muss irgendwie regiert werden. Wie das geht, hat einmal der luxemburgische Politiker der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV/PCS), seit dem 1. November 2014 Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, so formuliert: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die Meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt" (Der Spiegel, 27.12.1999). Die Nachrichtenagentur dapd zitierte ihn in dem Zusammenhang mit dem Satz: "Wenn es ernst wird, muss man lügen."

"Da hätten wir dann gewählt, um die alten Probleme wieder zu bekommen: Wegducken vor der Autoindustrie, keine Einigung bei Ackergiften, kein Ausstieg aus der Kohle. Und ein paar neue Probleme gibt's dazu: Eine atmende Obergrenze bei Flüchtlingen zum Beispiel und die AfD als Oppositionsführerin. Wollten wir das? Müssen wir das jetzt wollen?", wurde kommentiert in hr2, "Der Tag", am 27.11.2017.

Die schwarze Null, die gelbe Null und die grüne Null hatten nach Lage der Dinge mal vorgefühlt, sich abgetastet, vorgebohrt und rumgeplänkelt als Wollen-wir-miteinander-können-Workshop. Vielleicht ein Näschen Jamaika-Koksalition gefällig? Mal abgesehen von der notorischen Rauflust der allbekanntlich hölzernen bayerischen Trachtengruppe kam man beim Beschnuppern sogar auf Tuchfühlung miteinander und fand sich in eins darin, dass die "Schwarze Null" die unumstößliche Leitlinie der Finanz- und Wirtschaftspolitik bleiben müsse. Nach ein paar lecker Likörchen im Polit-Swingerclub waren die Grünen bald schon locker genug, auch die Rettung des Planeten unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen. Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns? Vermögenssteuer für Superreiche? Steuererhöhung für Kapitalerträge? Inklusion? Naja, wenn's halt nicht geht, dann geht's halt nicht. Und die "Obergrenze" wurde kurzerhand als zynischer Neusprech für die Festung Europa zu einem "atmenden Deckel" umbenannt. Jamaika wäre "eine praktische Regierung für das Kapital geworden. FDP und Union hätten sich die Bälle zugespielt und die Grünen dürfen da, wo es der Wirtschaft nicht weh tut, für ein wenig Umweltschutz sorgen", resümierte Charles Pauli vom Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw).

"Ozapft is" war schließlich in der Nacht vom 19. auf den 20.11.2017 so gut wie schon ins Fass geschlagen, und dann um 0:03 Uhr gab FDP-Markenzeichen-One-Man-Show Christian Lindner den Zarathustra ("O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? … Doch alle Lust will Ewigkeit - will tiefe, tiefe Ewigkeit!"). Und Lindner, der plötzlich den Mantel der Geschichte auf seinen Schultern spürte und sich an einer miserabel gespielten Adorno-Parodie verhob, sprach in die Pressemikrofone den als historisch vorkalkulierten Satz: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren". Und aus war es mit Jamaika. Gut so! Denn der Aussteiger Lindner ist wahrlich kein Intellektueller, und es wäre bei der alten "alternativlosen" marktkonformen Politik zugunsten der Monopole und Spekulanten geblieben, in Jamaika.

Und was jetzt? Darf es vielleicht ein GroKöchen sein? Eine Miniaturausgabe des CDUCSUSPD-Holzfigurenkabinetts, in dem sozialpolitische Willenskraft und Ziele allenfalls in den Mund, aber nicht in die Hand genommen werden? Als wäre die Obergrenze der sozialen Ungerechtigkeiten nicht schon längst überschritten. Dann wäre es nach der Lindner-Logik besser, nicht zu wählen als falsch zu wählen. Machen wir besser den Deckel drauf, bevor es darunter weiter atmet.

Was wir jetzt erleben, das ist das Hintergrundrauschen eines untergehenden Marktradikalismus, der einer solidarischen, demokratischen und inklusiven Gesellschaft im Weg steht. Immer deutlicher ist zu spüren, dass sich daran etwas ändern muss. Die Menschen, die das Neue spüren, weil sie täglich das Alte zu spüren bekommen, sind viele und werden immer mehr, in dem Maße, wie die privilegierte Minderheit immer reicher wird. Der Staat als Nachtwächter des großen Kapitals hat abgewirtschaftet. Was da jetzt rumpelt und holpert und knirscht, das sind die politischen Gravitationswellen, die entstehen, wenn schwarze Finanzlöcher kollidieren.

Die solidarischen, demokratischen und inklusiven Kräfte in der Gesellschaft existieren. Sie sind jedoch noch keine wirksame Kraft, weil sie zerstreut sind, unverbunden und weitgehend ohne politische Repräsentation. Es ist an der Zeit, mit dem Beginn zu beginnen. Unsere Initiativen, Bewegungen und Kräfte miteinander zu verbinden und daraus ein gemeinsames politisches Projekt zu entwickeln, ist unsere Aufgabe. Eine historische Aufgabe, der sich auch die Wickelwackel-SPD mit einer Runderneuerung stellen muss.

Neuwahlen würden bedeuten, entweder erneut das Alte und Falsche wählen zu können oder das Neue und Richtige. Das Alte (am schlimmsten Ende gar das schwarz-braun nationalistische Uralte) wäre Verzweiflung. Das Neue wäre Mut. Trotz alledem.

Früher oder später ist es an der Zeit.

Lesermeinungen zu “Auf dem Boden der Tatsachen” (2)

Von kirsti

Danke für die Erinnerung an „Trotz alledem“ von Hannes Wader und an „Es ist an der Zeit“ von den drei Großen Hannes Wader, Reinhard Mey und Konstantin Wecker.

Von Behindert_im_System

"Für meine Eltern waren die Grünen die Partei, in der Männer stricken, alle zusammen wilde Sexorgien feiern und Haschisch zu sich nehmen in undefinierbaren Mengen."

Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen

Muss man sich dann noch über die heutigen Situationen wundern?

Die Eltern müssen sehr weitsichtig gewesen sein bei den heutigen Ergebnissen?