Die unbefristete Sachgrundlosigkeit des Klodeckels

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

Wenn einer prinzipiell den Klodeckel immer oben lässt, dann muss man damit rechnen, dass es auf die Dauer auch für die Allgemeinheit zur Gewohnheit wird. Nach und nach werden sich alle danach richten und es ebenso machen. Zur Wirkung kommt dabei früher oder später in aller Regel die "Normative Kraft des Faktischen". Durch das "Faktische" wird die "Norm" der Realität angepasst.

Das gleiche passiert durch die Politik der unbefristeten Sachgrundlosigkeit – die man auch als die Politik des Aussitzens bezeichnet. Wo die Regelabstinenz und Ignoranz zur Regel wird, dort wird sie zum Regelfall, die Teilnahmslosigkeit wird zur maßgebenden Leitorientierung.

Beispiele dafür erleben wir in dieser Zeit in Hülle und Fülle. Insbesondere dort, wo soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zum Normalfall wird, weil die politisch Verantwortlichen aus Unfähigkeit oder bewusstem Kalkül nicht dagegensteuern.

Der Landeswohlfahrtsverband (LWV) in Hessen warnt beispielsweise dieser Tage vor einer Klassen-Versorgung von behinderten Menschen, denn wenn die großen Städte künftig die sogenannte Eingliederungshilfe selbst übernehmen im Gegensatz zu den weniger begüterten Kommunen auf dem Land, dann bekämen Behinderte in den Städten bessere Leistungen. Das wäre eine der fatalen Konsequenzen aus dem Bundesteilhabeverhinderungsgesetz der vorigen Großen Koalition. Eine weitere kontrollierte Ungerechtigkeit, weil die Ungerechtigkeit in Deutschland längst zum Regelfall gemacht wurde. Und zwar so systematisch, dass für die meisten dabei nichts mehr ungewöhnlich oder gar anstößig erscheint. Wie auch, wo man doch Schritt für Schritt und auf die Dauer darauf konditioniert wird, dies als den selbstverständlichen Normalfall wahrzunehmen.

In den Großstädten lebt in Deutschland ein Drittel der Bevölkerung. Dort findet man es selbstverständlich und normal, dass alle 10 Minuten eine Bahn oder ein Bus fährt. Für die restlichen zwei Drittel der Bevölkerung, die auf dem Land lebt, wurden die Klodeckel längst abgeschraubt. Dort muss man froh sein, wenn überhaupt ein Bus oder eine Bahn fährt.

Stattdessen findet man auf dem Land eher eine bezahlbare Wohnung. Das ändert nichts am Prinzip des Ungerechtigkeitsempfindens und der "Normativen Kraft des Faktischen". Ganz im Gegenteil, denn man sagt sich, das sei die ausgleichende Gerechtigkeit. Dabei ist es allenfalls eine ausgleichende Ungerechtigkeit.

Hier in Frankfurt, so war es letzte Woche im Plenum der Frankfurter Behindertenarbeitsgemeinschaft (FBAG) zu erfahren, werden keine barrierefreien Wohnungen für bezahlbare Mieten mehr gebaut. Nur hochpreisige Wohnungen sind barrierefrei. Wer eine barrierefreie Wohnung in Frankfurt sucht, der muss in der Regel eine Finanzierung des barrierefreien Umbaus vom Land Hessen bzw. dem LWV beantragen. Eigene Sparguthaben sind dafür allerdings einzusetzen. Und wem dies auf dem langem bürokratischen Weg vielleicht gelingt, der muss sich dazu verpflichten, nach einem späteren Auszug aus dieser barrierefreien Wohnung aus eigener Tasche den Rückbau der Barrieren zu finanzieren. Mo … Moment. Wer kratzt sich hier verwundert am Kopf? Ist doch alles ganz normal, oder?

Nachdenken? Nein, so geht das nicht. Fehlanzeige, so funktioniert die "Normative Kraft des Faktischen" nicht. Sondern die funktioniert so: Vor vier Tagen fand in Frankfurt am Main die Oberbürgermeisterwahl statt. Den 1. Wahlgang gewann der amtierende Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) mit 86.823 Stimmen und erzielte damit einen Stimmenanteil von 46,0 Prozent (Wahlbeteiligung: 37,6 Prozent). In Frankfurt leben mehr als 50.000 schwerbehinderte Menschen. Hätten die behinderten Frankfurter gegen die behindertenfeindliche Wohnungspolitik der Stadt und ihres Oberbürgermeisters gestimmt, würde sich die Klodeckelfrage ganz anders entscheiden.

Hätte, wäre, wenn - ist aber nicht. Warum nicht? Weil die meisten Menschen, die von Ungerechtigkeiten benachteiligt werden, nicht wählen gehen. Sie fühlen sich von der Politik vergessen und haben den Glauben verloren, etwas verändern zu können, und da wählt man schon aus Protest nicht, weil doch sowieso alles Scheiße und bescheuert ist, wie man jeden Tag erleben kann. Da ist sie wieder, die "Normative Kraft des Faktischen".

So kommt es, dass jetzt Jens Spahn (CDU) neuer Gesundheitsminister werden soll. Ja genau der, der Renten-Rambo, der schon in der vorherigen GroKo die Rente ab 63 abschaffen wollte. Nach den Recherchen der engagierten Leute von Lobbycontrol hatte Spahn die Lobby-Agentur Politas gegründete, deren Kunden schwerpunktmäßig aus dem Pharma- und Medizinbereich kamen. Lobbycontrol: "Spahns Beteiligung an dieser Konstruktion blieb für die Öffentlichkeit undurchsichtig. Er erhielt so parallel zu seiner Tätigkeit im Gesundheitsausschuss Geld aus der Lobby- und Beratungsarbeit eines engen Mitarbeiters."

"Bei einem weiteren Thema dürfte auf Spahn noch Arbeit zukommen: Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Fraktion sind die Preise für neue Arzneimittel in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen. Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung legten von 2007 bis 2016 um 33,7 Prozent zu", berichtet tagesschau.de. Warum werden die Medikamente immer teurer? Weil die Pharmalobby die Politik im Griff hat. Jens Spahn weiß Bescheid und lässt deshalb den Klodeckel oben.

Mit der Ernennung dieses ehrgeizigen Herrn will Kanzlerin Angela Merkel den rebellierenden konservativen Flügel der CDU besänftigen und nimmt dafür die Fortsetzung der Klassenmedizin, die Ungleichbehandlung von Privat- und Kassenpatienten in Kauf. Mit diesem Minister wird es im Merkelschen Gruselkabinett weder eine bessere Bezahlung der Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich geben noch die Beendigung des katastrophalen Pflegenotstands.

Wer schon einmal versucht hat, einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen, der kennt darauf die obligatorisch erste Frage: "Sind sie gesetzlich oder privat versichert?" Spahn sagt: "Beim Arzt hätten die Menschen das Gefühl, es gebe zwei Klassen bei der Terminvergabe ..." Kommentar auf tagesschau de: "Die haben nicht nur das Gefühl, sondern die Erfahrung gemacht, dass dem so ist …Scherzkeks!"

Ironie des Schicksals: Wem der Klodeckel auf den Kopf fällt, der hat zu tief in die Schüssel geschaut.

 

Lesermeinungen zu “Die unbefristete Sachgrundlosigkeit des Klodeckels” (2)

Von Behindert_im_System

Zitat:

"Die unbefristete Sachgrundlosigkeit des Klodeckels"

Wir könnten leichter uns von den Gegnern unterscheiden, aber dann muss auch ein gewisses Niveau erkennbar sein.

Von Heidi

Wie sollen sich Betroffene, denn besser durchsetzen, als bislang, wenn sie eh schon gesundheitlich, kräftemäßig, finanziell deutlich benachteiligt, tagtäglich gegen unreflektierte, gesellschaftliche Widerstände ankämpfen müssen? Obenauf noch der Existenzkampf, um das, was man behinderungsbedingt braucht und hierbei einen nach dem nächsten Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen?
Menschen haben ihre Belastungsgrenzen! Und das wird gewissenlos ausgenutzt.
Betroffenen vorzuwerfen, dass sie aufgegeben hätten, ist lediglich wieder nur ein trauriges Beispiel dafür, wie man es sich einfach damit machen kann, seine Mitmenschen im Regen stehen zu lassen!
Beginnen wir doch erst einmal untereinander respektvoll miteinander umzugehen und Verständnis füreinander zu entwickeln, anstatt uns auch noch gegenseitig das Leben schwer zu machen.