Die Zukunft war schon mal besser

Veröffentlicht am von Harald Reutershahn

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Bild: Bettina Wöllner-Reutershahn

Wenn einmal etwas anders war, als es gegenwärtig ist, dann betrifft das die Vergangenheit, und darüber kann man rückblickend Feststellungen machen und Aussagen treffen, denn die Vergangenheit reicht nur bis zur Gegenwart und in sie hinein. Die Gegenwart steht am Ende der Vergangenheit, allerdings nicht ganz, denn sie ist aus ihr hervorgegangen und tritt ihre Erbschaft an. Diese Erbschaft kann jedoch in der Gegenwart verspielt und zu Grunde gerichtet werden. Und wenn das geschieht, dann ist die Aussicht auf die Zukunft der Gegenwart schlechter als zuvor.

Der Tanz
(von Christian Morgenstern)

Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule
trafen sich im Schatten einer Säule,
die im Geiste ihres Schöpfers stand.
Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze
reichten sich die zwei zum Tanze
Fuß und Hand.

Und auf seinen dreien rosa Beinen
hüpfte das Vierviertelschwein graziös,
und die Auftakteul auf ihrem einen
wiegte rhythmisch ihr Gekrös.
Und der Schatten fiel,
und der Pflanze Spiel
klang verwirrend melodiös.

Doch des Schöpfers Hirn war nicht von Eisen,
und die Säule schwand, wie sie gekommen war,
und so musste denn auch unser Paar
wieder in sein Nichts zurücke reisen.
Einen letzten Strich
tat der Geigerich –
und dann war nichts weiter zu beweisen.

Wir, soweit wir Behinderte sind, solange wir behindert werden, hatten einen Traum getanzt. Nicht, dass wir Traumtänzer wären an sich. Aber unsere Melodie klang schön, und die Vorfreude wuchs, dass wir Gleiche unter Gleichen werden könnten, wenn die Barrieren und alle Hinderungen beseitigt und für alle Zeiten abgeschafft würden. Oh ja, eine schöne Melodie. Und die Realmusiker texteten schon die Strophe vom "Paradigmenwechsel" im Sinne eines Wechsels der politischen Lebenseinstellung oder des Umbruchs der lebensweltlichen Zusammenhänge unter den bestehenden Verhältnissen einer Gesellschaft, in der die Ungleichheit das herrschende Ordnungsprinzip ist.

Papier wurde dazu beschrieben, ein Vierteljahrhundert lang und länger. Programme verfasst, Erklärungen dazu und Vereinbarungen getroffen, sowie Gesetze beschlossen und Menschenrechtskonventionen verabschiedet. Auf Wiedersehen. Und je mehr die Behinderer auf all das gepfiffen haben, dachten die Realmusiker unter uns, es werde unser Liedchen von den Realbehinderern aus Begeisterung mitgepfiffen. Aber Pfeifendeckel. Allmählich beginnt man, wenn auch widerwillig und sehr langsam, zu begreifen: Das Pfeifkonzert entpuppt sich nach und nach als Streichkonzert. Und die politischen Schlaftabletten taten und tun ihre Wirkung.

Gleichstellung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen? Barrierefreiheit überall? Inklusion? Teilhabegerechtigkeit? Pflegenotstand abschaffen? Das waren Sonntagsreden. Die Schaufensterauslagen wurden ausgeräumt. Abgerechnet wird nach dem Kostenfaktor, das bringt "Benefit", und den Maßstab dafür setzt die Privatwirtschaft. Soziale Gerechtigkeit schmälert die Profite. 12 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehrmacht (Tagesschau.de 29.04.2018: Etat für Bundeswehr: Von der Leyen fordert zwölf Milliarden mehr), da steigen die Aktienkurse. Schließlich ist Deutschland von Feinden umzingelt.

Der Klartext war und ist und bleibt: "Soziale Sentimentalitäten" kann sich der Kapitalismus nicht leisten!

Die Politromantik von einem "gemäßigten Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" ist pure Traumtänzerei, die niemals zukunftsfähig war und ist. Für so etwas wie Menschlichkeit gab und gibt es in keiner Buchführung ein Konto.

Menschen sind für das Kapital ein Produktivfaktor. Nicht etwa, weil das Kapital das Böse ist. Quatsch, das Kapital ist ohne Seele und ohne Moral, es ist wie es ist, und deshalb fließt es nach den unregelbaren Regeln der Kapitalmärkte ohne Rücksicht auf menschliche Gefühle und Schicksale dorthin, wo es sich die höchsten Renditen verspricht, und das heißt: Profit, Profit und nochmal und immer wieder Profit.

Das ist der Grund dafür, warum für das Kapital und seine politischen Sachwalter behinderte Menschen sozialer Ballast sind.
Das ist der Grund dafür, warum die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland niemals umgesetzt wird. (Merkel: Wir haben eine marktkonforme Demokratie. Von einer demokratiekonformen Marktwirtschaft hat sie nie gesprochen!)
Das ist der Grund dafür, warum in Nordrhein-Westfalen Wohnungen künftig erst ab der sechsten Etage barrierefrei mit einem Aufzug ausgestattet werden sollen.
Das ist der Grund dafür, warum in Deutschland die Schulinklusion nicht vorankommt, obwohl sie nach einer repräsentativen Umfrage durch die YouGov Deutschland GmbH im Auftrag der Aktion Mensch von 74 % der Gesamtbevölkerung befürwortet wird.
Das ist der Grund dafür, warum immer mehr pflegeabhängige Behinderte in Aussonderungsheime gesteckt werden.
Das ist der Grund dafür, warum es in Deutschland nicht weniger, sondern immer mehr Behinderte gibt, die in Diskriminierungswerkstätten abgeschoben werden und warum behinderte Menschen massenhaft von Arbeitslosigkeit und sozialer Enteignung betroffen sind.
Das ist der Grund dafür, warum neue Barrieren stets schneller entstehen als alte Barrieren abgebaut werden.
Das ist der Grund dafür, warum der Pflegenotstand niemals beseitigt wird.
Das ist der Grund für die Stigmatisierung behinderter Menschen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen.

Wen kann es da noch wundern, dass die braune Vergangenheit und der Ungeist der Euthanasie zurückgekehrt sind in den Deutschen Reichstag. Latent war er immer vorhanden und wirkt konkret als soziale Ausbürgerung auf das Leben jener Millionen Menschen, die Behinderte sind, weil sie behindert werden, diffamiert und diskriminiert als "Ballastexistenzen". Der sozialen Euthanasie wurde in Deutschland niemals ein Ende gesetzt. Das kann und wird auch niemals geschehen, bevor wir Millionen behinderte Menschen in Deutschland den Ursachen für diesen grauenhaften Spuk unwiderruflich ein Ende setzen.

Dafür müssen die Proteste und Aktionen behinderter Menschen fortgesetzt werden. Der 5. Mai als Europäischer Protesttag für die Gleichstellung Behinderter ist auch in diesem Jahr wieder im ganzen Land eine Gelegenheit dazu. Umfangreiche Informationen zum Protesttag gibt es auf der Internetseite www.aktion-mensch.de/aktionstag-5-mai.html mit der Datenbank für einen Aktionsfinder.

Und es bleibt dabei: Wir, soweit wir Behinderte sind, solange wir behindert werden, tanzen weiter unseren Traum. Nicht, dass wir Traumtänzer wären an sich. Aber unsere Melodie klingt schön, und die Vorfreude wächst weiter, dass wir Gleiche unter Gleichen sein werden, wenn die Barrieren und alle Hinderungen beseitigt und für alle Zeiten abgeschafft sind.

Lesermeinungen zu “Die Zukunft war schon mal besser” (2)

Von Andreas Vega

Oh, wie gut passt diese Kolumne in diese Tage. In München schafft sich ein ehemals streitlustiger Verein ab und ist nur noch mit sich selbst beschäftigt, um Mitarbeiter und Dienstleistungen zu verwalten und zu erhalten. Und dann kommt dieses angesprochene Projekt mit der angeblichen Beratung zur Teilhabe, dass nur reine Beschäftigungstherapie ist und von den politischen Forderungen ablenkt. Am Ende dieser Kolumne weist Harald auf den 5. Mai hin, den europaweiten Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Ich entgegne, an diesen Tag hat sich unsere kapitalistische neoliberale Gesellschaft schon lange gewöhnt. Schon lange interessiert sich die Medienwelt einen feuchten Furz für diesen Tag und die Anliegen von Menschen mit Behinderung. Und andere Verbände aus der Wohlfahrtindustrie, wie die Werkstätten der Lebenshilfe nutzen diese Demonstrationen für ihre Propaganda. Uns Mitstreiterinnen ist es bei den großen Zentraldemonstrationen in Berlin nicht mal aufgefallen. Es braucht neue und stärkere Aktionen. Eine sehr lesenswerte Kolumne.

Von rgr

Allen Lesern einen schönen 1. Mai